Heldengeschichten von Rüdiger Safranski
Safranski ist dem Individualismus auf der Spur, der bis heute das Weltbild des Westens prägt. In 16 Kapiteln erzählt er anhand kurzer Biografien ausgewählter Philosophen Geschichten von prägenden Erfahrungen des Alleinseins. Es sind fast nur Männer, und Safranski wiederholt die klassische Geschichtsauffassung.
In seinem Buch „Einzeln Sein“ zeigt Rüdiger Safranski, wie europäische Philosophen und Philosophinnen ihr jeweiliges Einzeln sein konstruierten und erlebten. Im Rückzug von der Gesellschaft gründet ihre Fähigkeit, ihre Umgebung zu verstehen und zu verändern. Deshalb kann es fruchtbar sein, dieses Einzeln sein jeweils in seiner Eigenart zu analysieren, um Triebfedern und Stoßrichtung der Impulse zu verstehen, die diese „Einzelnen“ der Welt gegeben haben.
Einzeln sein bedeutet, aus einer Tatsache – jeder ist einzeln – eine Aufgabe zu machen für das Leben und das Denken, so Safranski in seiner Einleitung. In seinem Buch stellt er 16 europäische Persönlichkeiten und eine amerikanische in ihrem Einzeln sein dar, die meisten Philosophen und ein paar Literaten.
Das sind kleine, funkelnde Biographien. Safranksi versteht sich auf das Schreiben von Biographien, das hat er schon mit seinen großen Biographien über Goethe und Schiller, Hölderlin, Schopenhauer und Nietzsche gezeigt. Das Augenmerk hier liegt durchweg auf ihrer Version des Einzeln seins, nicht zu verwechseln mit Alleinsein, Einsamkeit oder Individualismus.
Was bewirkt Einzeln sein: ein Beispiel
Ein Beispiel: Es brauchte viele Bedingungen, damit Martin Luther seinen Zugang zu Gott fand. Es war eine Zeit der Umbrüche und Verunsicherungen, die Lebensweise der Päpste und des römischen Klerus brachte viele Katholiken auf.
Luthers erste Station der Selbstfindung führte ihn zu den Augustiner-Mönchen. Doch die strenge Disziplin reichte ihm nicht, er kasteite sich Tag und Nacht, weil er sich sündig fühlte. Auf einer Reise, die ihn im Auftrag des Ordens nach Rom führte, stieß er auf die Verweltlichung und Sündhaftigkeit des Klerus und des Papstes. In seiner Verachtung der Institution Kirche, der er angehörte, hatte er sich schon ziemlich weit entfernt von seiner Umgebung.
Aber sein Erweckungserlebnis geschah erst, als er den Brief des Paulus an die Römer völlig neu las und schlagartig verstand, dass es nur auf den Glauben ankommt und nicht auf die Einhaltung katholischer Regeln und Sündenregister. Er erkannte: Gott wirkt direkt in mir und allen Menschen.
Damit war der Sprung geschafft zu einer sehr persönlichen Beziehung zu Gott, die in der Folge auch nicht mehr auf die Vermittlung durch eine verfallende katholische Kirche angewiesen war. Luthers Weg zu seiner Glaubens- und Gnadenlehre, deren Folgen weit über die christliche Kirche hinausgehen, lief über sein persönliches Einzeln Sein.
In dieser Präzision und Kürze werden intellektuelle Biographien von Montaigne, Rousseau und Diderot, Stendal, Kierkegaard, Stirner und Thoreau, George, Simmel und Weber und einigen Existenzialisten des 20. Jahrhunderts vorgestellt.
Nicht alle sind so genau und tiefschürfend wie die über Luther. Ihre Geschichten werden kurz erzählt und dann noch einmal zusammengefasst. Der Autor hatte schon in der Einleitung den Verzicht auf eine umfassende Theorie betont, ohne es allerdings zu begründen.
Safranski schreibt Heldengeschichten
Die Berichte sind alle gut zu lesen und bereichern das eigene Wissen. Die Frage ist, warum der Autor die Geschichten nur aneinanderreiht, statt sie mit Erklärungen oder Theorien zu verbinden.
Eine Theorie oder doch wenigstens eine Entwicklungsgeschichte des Einzeln-Seins wäre interessant gewesen. Eine „philosophische Herausforderung“, wie es im Untertitel des Buches heißt, ist hier nicht gelungen.
Dem Buch liegt offenbar die Einstellung zugrunde, dass bis heute Geschichte etwas ist, was von einzelnen, weißen Männern gemacht wird. Was die normalen Menschen machen, wie ihr Alltag aussieht, was sie verändern, welchen Veränderungen sie unterworfen sind – all das ist kaum Thema der klassischen Geschichtsschreibung.
Safranski wiederholt diese Geschichtesauffassung, ohne dass er es ausspricht. Er schreibt „Heldengeschichten“. Man kann nicht bestreiten, dass die Menschen, die er vorstellt, wichtige Impulse gegeben haben, aber die Annahme, dass sie allein, auf sich gestellt für die Gesellschaft gekämpft haben, ist übertrieben.
Man hätte z.B. die Frau von Luther als Beispiel nehmen können, die einen nicht zu überschätzenden Einfluss auf ihn und die Bewegung ausgeübt hat, etwa dadurch, dass sie aus dem Orden austrat, um ihn heiraten zu können.
Und hat nicht Melanchton maßgeblich an der Bibelübersetzung mitgewirkt, weil Luther selbst gar nicht sehr gut Griechisch konnte? Was ist mit Erasmus und Thomas Münzer, den Luther später verraten hat?
Wer sich heute mit Geschichte befasst, muss diese Zusammenhänge kennen. Man kann ein Buch über das Einzeln sein schreiben, aber man darf nicht so tun, als hätten nur diese exponierten Menschen Geschichte geschrieben und Gesellschaft gestaltet.
Carsten Petersen
Rüdiger Safranski. Einzeln sein: Eine philosophische Herausforderung. Carl Hanser Verlag 2021