Eltern und Kinder gehen gemeinsam zur Schule

Foto: Gabriele Rabkin
Foto: Gabriele Rabkin

Zehn Jahre Family Literacy in Hamburg

Bildung ist der Schlüssel für ein gutes Leben. Auf dieser Erkenntnis beruht „Family Literacy“, ein Projekt in Vor- und Grundschulen, bei dem Kinder zusammen mit ihren Eltern Sprache erlernen. In Hamburg lernen mittlerweile 6000 Schüler und 1000 Eltern gemeinsam.

Das Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) hatte zum Weltalphabetisierungstag der Vereinten Nationen am 10. September 2014 einen besonderen Grund zum Feiern: Zehn Jahre besteht das im LI angesiedelte Projekt Family Literacy (FLY) – das ist ein integrativer Ansatz, in dem Kinder und Eltern gemeinsam lernen, Sprachdefizite zu beheben.
Das Projekt fördert Kinder und Jugendliche, vor allem mit Migrationshintergrund, die, wie die Pisa-Studie zeigte, in Deutschland schlechtere Bildungsabschlüsse erzielen als in anderen Ländern. Es findet mittlerweile im gesamten Hamburger Stadtgebiet an 67 Schulen in 260 Lerngruppen statt. 6000 Schüler und – das Besondere am Projekt – 1000 Eltern, überwiegend Mütter, besuchen die Lerngruppen.

Das Erfolgsgeheimnis: Eltern stärken

Kultur und Bildung fangen zu Hause an zu wirken. Das, was Kinder aus den ersten Lebensjahren mitnehmen, ist maßgeblich für ihre spätere Kompetenz in Schrift und Sprache, für ihre Lernmotivation und damit letztendlich für ihren späteren Erfolg in Schule und Beruf. An dieser zentralen Erkenntnis der Bildungsforschung setzt Family Literacy an.
Literacy heißt Sprachförderung und schließt die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens ein. Das Projekt versteht darunter aber mehr: die Freude am Lesen, das Verständnis für Texte und deren Bedeutung, das Vertrautsein mit Büchern und die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken.

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Kinder und Mütter lernen gemeinsam. Foto: Gabriele Rabkin

Die Vorschulen und Grundschulen werden zu Orten des gemeinsamen Lernens von Eltern und Kindern, wobei vor allem Mütter an den gemeinsamen Unterrichtsstunden teilnehmen. Sie erlernen den Umgang mit Sprache und erhalten auch Anregungen, wie sie zu Hause mit ihren Kindern lernen können. Nebenbei können sie sich ein Bild vom Schulalltag ihrer Kinder machen.
Viele Eltern, aber längst nicht alle, bringen eine Migrationsgeschichte mit. Sprachliche und kulturelle Vielfalt wird als ein Erfolgsfaktor auf dem Weg zur Bildungskompetenz gesehen. Es geht bei dem Projekt darum, die Fähigkeiten und Kompetenzen der Eltern zu stärken, denn Sie nehmen mehr als die Schule Einfluss auf die kindliche Entwicklung: Kein Unterricht kann sich gegen die Alltagswelt der Kinder durchsetzen.

Die Lust an der Sprache…

Family Literacy lebt von der Begeisterung und der Freude seiner Teilnehmer, das wurde auf der Jubiläumsveranstaltung am 10. September deutlich. Die Lust, Sprache zu vermitteln, betonte Gabriele Rabkin, die Leiterin von Family Literacy am LI, sei eines der wesentlichen Ziele: “Die konkrete Arbeit an den Schulen gelingt am besten durch die Freude am Lernen.”
Auf diesem Weg könne man sich besser verstehen und ein Dialog werde möglich. “Erst so reden wir nicht übereinander, sondern miteinander”, ist Rabkin überzeugt. Eine wichtige Aufgabe, um in einer Gesellschaft, in der beispielsweise in Hamburg jeder dritte einen Migrationshintergrund hat, Misstrauen abzubauen, sich wahrzunehmen und ins Gespräch zu kommen.

… und der weite Weg zur Chancengleichheit

Family Literacy ist ein internationales Projekt, bei dem es auch darum geht, das Grundrecht auf Bildung zu verwirklichen. Denn Bildung senkt Armut und das Armutsrisiko, bringt eine bessere Gesundheit und stärkt die Demokratie, schreibt der UNESCO-Weltbildungsbereicht 2013/14.
Walter Hirche, der Vorsitzende der Deutschen UNESCO-Kommission, der am 10. September in Hamburg zu Gast war, legte den Finger in die Wunde: Er kritisierte, dass jährlich 220.000 Schulabgänger ohne ausreichende Sprachbildung sind – das sind eine Million Menschen in fünf Jahren, denen es an Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe mangelt. Eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe liege darin, Chancengleichheit herzustellen und das Potenzial aller Menschen zu nutzen. Dazu leiste Family Literacy einen wichtigen Beitrag.
Nach Ende der Pilotphase 2009 ist das Projekt in Hamburg nicht mehr wegzudenken auf dem Weg, kontinuierlich Bildungsbenachteiligung abzubauen. 2010 erhielt Family Literacy den Alphabetisierungspreis der UNESCO und 2011 den Hamburger Bildungspreis. Es ist eine absolute Erfolgsgeschichte, alle Evaluationen beweisen dies. Mittlerweile schauen viele andere Städte auf Hamburg und versuchen, die Erfahrungen zu übertragen.
Stefan Ringstorff

Mehr Information:
Zum zehnjährigen Jubiläum erschien das Buch „Familienorientierte Bildung im Raum Schule“ mit neun Good Practice-Beispielen von Hamburger Schulen. Es ist über das Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung oder den Projektpartner, das UNESCO Institute for Lifelong Learning, erhältlich:
http://li.hamburg.de/family-literacy

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