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„Erschöpfung ist auch eine Reaktion auf Beschleunigung“

Bruno Aguirre/ Unsplash
Bruno Aguirre/ Unsplash

Interview mit einer Historikerin

Die Historikerin Sarah Christine Bernhardt befasst sich mit dem Diskurs um Erscheinungsformen von Erschöpfung. Erschöpfung gehört zu den menschlichen Grundgefühlen, ist aber kein rein individuelles Phänomen. Deshalb hält sie auch nicht viel von Achtsamkeit. „Erschöpfung ist immer auch eine hochpolitische Angelegenheit“, so Bernhardt.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Sie befassen sich als Historikerin mit dem Thema Erschöpfung. Dies ist ja erstmal ein neutrales Phänomen, das zum Leben gehört. Worum geht es Ihnen?

Bernhard: Es gibt verschiedene Dimensionen von Erschöpfung: erstens im Sinne einer körperlichen Müdigkeit, das ist eine physiologische Konstante im Leben. Unser Organismus braucht Ruhepausen. Weiter kennen wir Erschöpfung als Symptom krankhafter Zustände, etwa in Folge einer Krebserkrankung oder Long Covid.

Drittens benutzen wir den Erschöpfungsbegriff, um Krankheitsphänomene zu beschreiben, die im Zusammenhang mit einem gesellschaftlichen Zustand stehen, hier ist das Phänomen also auch Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes. Diese Erschöpfungsgefühl wurde im 19. Jahrhundert und an der Wende zum 20. Jahrhundert bereits in ähnlicher Weise beschrieben und Nervenerschöpfung oder Neurasthenie genannt.

Mich interessiert, die Auseinandersetzungen mit den Erschöpfungsphänomenen um 1900 mit denen um 2000 zu vergleichen, gerade im Hinblick darauf, wie darüber gesprochen wurde, aber auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen. Diese Art der Erschöpfung, mit der wir es hier zu tun haben, ist keine rein individuelle Angelegenheit.

Wie würden Sie die Entwicklung des Diskurses zur Erschöpfung beschreiben?

Bernhardt: Wir haben in den Burn-out-Debatten ab 2000 eine starke Fokussierung auf die Erwerbsarbeit, also die Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Insbesondere die Ratgeberliteratur beschäftigte sich in dieser Zeit mit Fragen zur Work-Life-Balance und der Burnout-Prävention.

Spätestens mit Einsetzen der Corona-Pandemie 2020 und unter dem Eindruck neuer globaler Krisen wie der Klimakrise oder des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat sich das geändert. Wenn wir aktuell von Erschöpfung sprechen, meinen wir nicht mehr nur die Erwerbsbiografien, sondern auch individuelle Zustände der Überforderung und Überlastung.

Wir kennen quer durch die Bevölkerungsschichten Zukunftsängste und Zukunftssorgen, die sich um die politische Lage und die Klimakrise drehen. Momentan wird mit Erschöpfung vor allem eine Form von Verunsicherung und Zukunftsangst thematisiert.

Hetzen und Jagen und die Angst, abgehängt zu werden.

Sie sprechen davon, dass es bei Erschöpfung um Diskursphänomene geht. Können Sie das erläutern?

Bernhardt: Wenn wir in den Geisteswissenschaften von Diskurs sprechen, meinen wir die Art und Weise, wie gesellschaftliches Wissen und das, was die Mitglieder einer Gesellschaft für wahr halten, durch Kommunikation hergestellt, ausgehandelt und durchgesetzt wird.

In Bezug auf Krankheitsbegriffe bedeutet das, dass diese nicht nur Ausdruck eines medizinischen Wissenstandes sind, sondern in einem engen – diskursiven – Verhältnis zu den Denkstrukturen, Wahrnehmungsmustern und Handlungsformen der jeweiligen Zeit stehen.

Im Diskurs über Burnout beispielsweise werden sprachliche und visuelle Bilder hervorgebracht, die bestimmte Assoziationen wecken und deren Bedeutung meistens mehrschichtig ist – zum Beispiel das abbrennende Streichholz oder die Pose des erschöpften, gebeugten Menschen.

Diese Bilder sind keine rein beschreibenden Begriffe, sondern suggerieren immer mehreres. Der leere Akku beispielsweise erzählt auch die Geschichte von einem Menschenbild, in dem man sich komplett entladen kann und dann wieder angeschlossen wird, um bis zur nächsten Entladung erneut zu funktionieren. Es finden sich auch ganz absurde Bilder, wie etwa die Darstellung eines Menschen mit einer Schraube im Rücken, den man wie eine Uhr aufziehen kann.

Erschöpfung als Diskursphänomen bedeutet, dass das eigene Fühlen und das Sprechen über den eigenen Zustand in gewisser Weise vorformatiert ist. Wir benutzen eine Bildsprache, um zu artikulieren, wie es uns geht. Und diese Bilder, die wir wählen, verändern zugleich wieder, wie wir uns fühlen und selbst wahrnehmen. Und sie kommen bei anderen an, die dann wiederum auf Bilder und Begriffe zurückgreifen, um sich zu artikulieren.

Achtsamkeit ist eine zusätzliche Anforderung an das Individuum.

Haben Sie sich in Ihrer Analyse auch Reaktionen auf Erschöpfung angeschaut? Im Zusammenhang mit Burnout sind ja Ansätze wie Achtsamkeit als Versuche aufgetreten, dem etwas entgegenzusetzen oder präventiv etwas zu tun.

Bernhardt: Als Kulturhistorikerin habe ich das Konzept der Achtsamkeit kritisch unter die Lupe genommen. Im heute populären Achtsamkeits-Trend sehe ich deutliche Schnittmengen zur Maxime der Selbstoptimierung und ich empfinde die oberste Zielsetzung der inneren Ruhe als ziemlich unpolitisch.

Die Zeit und Energie, die investiert wird, um sich mit Hilfe bestimmter Techniken und Praktiken in so einen Zustand zu versetzen, fehlt dann, wenn es darum geht, sich zu engagieren und beispielsweise mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuschließen, um konkrete Probleme am Arbeitsplatz zu besprechen

Gleichzeitig stellt der Achtsamkeitsdiskurs eine neue, zusätzliche Anforderung dar, der man nachkommen soll. Instrumentell ist das ganze insofern, als dass es womöglich nicht darum geht, dass alle zufriedener und glücklicher sind, sondern darum, dass sie leistungsfähig bleiben. Nach dem Motto: „Kümmere Dich um Dich selbst, damit Du kein Burnout bekommst und besser arbeiten kannst!“

Sie halten also nicht viel von Achtsamkeit?

Bernhard: Natürlich ist nichts dagegen zu sagen, wenn jemand Techniken wie Yoga, Meditation oder Spaziergänge für sich findet, mit denen es ihm oder ihr besser geht. Die Frage ist dann nur, in welchem Kontext wird wie darüber gesprochen und zu welchem Zweck?

Es gibt eben auch Situationen, in denen wir als Gesellschaft andere Haltungen entwickeln oder auch andere Gesetzgebungen brauchen – zum Beispiel, wenn es um Elternschaftsurlaub, Kindererziehung und Krankheitsausfälle geht.

Ich kenne selbst die Schwierigkeiten junger Eltern, die sich organisieren müssen, um Kindererziehung und Arbeit zu verbinden, manchmal auch einfach, damit sie finanziell über die Runden kommen. Wenn in diesem Kontext über Achtsamkeit gesprochen wird und nicht über Geschlechterrollen, die Bedeutung von Care-Arbeit und konkrete Lösungen für den Alltag, dann finde ich das problematisch.

Ich denke, letztlich können Erschöpfungszustände nur zu einem begrenzten Teil auf der individuellen Ebene gelöst werden. Die Frage ist vielmehr, wie sich systemische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse oder die konkrete Situation am Arbeitsplatz verändern lassen.

Foto: Ken Yamamoto

Sarah Christine Bernhardt hat Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaften studiert und sich mit einer Arbeit über “Neurasthenie und Burnout. Formen der Erschöpfung in der Moderne” promoviert. Derzeit ist sie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Postdoc in einem DFG-Projekt zur Geschichte des Goethe-Instituts beschäftigt. 

 

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