Erstarken der AfD: Warum man Weimar und Berlin nicht vergleichen kann

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Armenspeisung 1931 und keine soziale Absicherung |
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Interview mit dem Historiker Bernd Braun

Die Wahlerfolge der AfD und das Erstarken rechtsextremer Bewegungen versetzen Menschen in Angst. Wiederholt sich die Geschichte? Nein, sagt der Historiker Professor Bernd Braun, Deutschland hat eine funktionierende Demokratie. Sorge bereiten ihm soziale Verwerfungen und das schwindende Vertrauen in den Staat.

Das Gespräch führte Kirsten Baumbusch

Frage: Wie geht es Ihnen, wenn Sie das Auftreten und den Zulauf der Rechtsextremen in Deutschland sehen? Ist das vergleichbar mit dem Erstarken des Nationalsozialismus vor fast hundert Jahren?

Braun: Die aktuelle Entwicklung in Deutschland ist nur sehr bedingt mit der Weimarer Republik vergleichbar. Adolf Hitler profitierte von der Massenarbeitslosigkeit, die aufgrund fehlender sozialer Absicherung zum Massenelend führte.

Die AfD ist keine NSDAP 2.0, zum Beispiel ist sie keine antisemitische Partei, auch wenn die Grenzen zwischen berechtigter Migrationskritik und Migrationsfeindlichkeit in Teilen dieser Partei fließend sind.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, das dieses Jahr 75. Geburtstag feiert, waren ja geprägt von dem unbedingten Gefühl des „Nie wieder“. Was haben sie sich an Sicherungen einfallen lassen?

Braun: Da sind neben der Fünf-Prozent-Hürde vor allem das Bundesverfassungsgericht und die hohen Hürden einer Parlamentsauflösung zu nennen – und nicht zuletzt die Stellung des Bundespräsidenten.

Die Schwäche der Weimarer Reichsverfassung, von deren Inhalten übrigens viele in unser Grundgesetz eingeflossen sind, war vor allem die starke Stellung des Reichspräsidenten. Solange ein Demokrat wie Friedrich Ebert diese Position einnahm, war das kein Problem. Aber mit einem Antidemokraten wie Paul von Hindenburg wurde dem Nationalsozialismus die Tür geöffnet.

Der soziale Wohnungsbau wurde über Jahrzehnte vernachlässigt.

Heute sind die Demokratien in anderer Weise bedroht, nicht nur in Europa, sondern auch in den USA. Was hat dazu geführt?

Braun: Für die meisten hierzulande gehören Hunger, Krieg, Elend, Kampf um Menschenrechte und Demokratie nicht zum persönlichen Erfahrungshintergrund. Deshalb halten sie ein freiheitliches System für selbstverständlich, schätzen es nicht sonderlich hoch und glauben nicht, dass die demokratischen Werte immer wieder erneuert und verteidigt werden müssen.

Dazu kommt dann noch die Corona-Pandemie. Da haben viele Bürgerinnen und Bürger den Staat als übergriffig bis ins Privateste erlebt, beispielsweise dass Sterbende in Kliniken nicht von ihren Angehörigen Abschied nehmen konnten. Das hat in der Psyche unserer Nation etwas angerichtet. Das Vertrauen in den Staat und letztlich auch in die Demokratie wurde erschüttert.

Weiter haben wir soziale Verwerfungen. Über Jahrzehnte hinweg wurden der soziale Wohnungsbau und der öffentliche Verkehr vernachlässigt und das Gesundheitssystem immer stärker dem Markt unterworfen. Betroffen hat das vor allem das untere Segment der Bevölkerung.

Wenn dann noch große Migrationsbewegungen dazu kommen, erhöht sich der Druck, und eine kollektive Unzufriedenheit schaukelt sich hoch. Umgekehrt gilt das soziale Aufstiegsversprechen, dass die Kinder es besser haben werden als die Eltern, weitgehend nicht mehr. Die Gesellschaft ist kaum durchlässig von unten nach oben; umgekehrt schon. Da ist etwas ins Rutschen geraten.

Deutschland ist eine funktionierende parlamentarische Demokratie.

Und die Menschen untereinander?

Braun: Jeder von uns erlebt derzeit eine Entfremdung im alltäglichen Leben: Apotheken und Arztpraxen, vor allem auf dem Land, schließen, ebenso Metzgereien und Bäckereien. Die Dorfkneipe und die Bankfiliale machen zu. Statt sozialer Kontakte wird vieles digital abgewickelt.

Das ist in vielen Fällen ganz praktisch, aber es vereinsamt auch. Der soziale Austausch geht verloren. Das Gleiche gilt für die politische Entwicklung, die überwiegend im Internet stattfindet und von den sozialen Medien beeinflusst wird. Dort wird nicht zuletzt durch die Algorithmen immer stärker skandalisiert. Was früher am Stammtisch geäußert wurde, findet jetzt ein Massenpublikum.

Und wird aufgenommen von rechten Parteien wie der AfD. Wie erklären Sie sich deren Wählerpotential?

Braun: Menschen mit rechtsextremen Einstellungen waren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ja nie wirklich weg. Das Wählerpotenzial lag bei ungefähr zehn Prozent, auch wenn es nicht immer eine Partei gab, die dieses Potenzial an die Wahlurne gebracht hat.

Außerdem war es nicht opportun, diese Haltung in der Öffentlichkeit zu äußern. Dazu kommt der Niedergang der Linken, die früher vor allem in Ostdeutschland ein wichtiger Faktor war, um das Protestpotential aufzufangen.
Ein weiterer Punkt ist die Bewegung der CDU weit in die Mitte des politischen Spektrums und die lange Amtszeit Angela Merkels. Demokratie bedeutet Wechsel. Überlange Amtszeiten führen zur Ermüdung.

Macht Ihnen die derzeitige Entwicklung eigentlich Sorgen? Wo gibt es Grund zur Hoffnung?

Braun: Grund zur Besorgnis liefert das schon. Aber unser Eingebundensein in die Europäische Union, den Europarat, die Vereinten Nationen, die NATO, usw., die lange Friedenszeit in Europa, die internationale Vernetztheit vieler Menschen, das hat uns schon geprägt.
Umgekehrt ist die Welt in Form vieler Menschen zu uns gekommen. All das hat zur längsten Phase unserer Geschichte mit funktionierender parlamentarischer Demokratie geführt. Das ist eine konkrete Lebenserfahrung der letzten Jahrzehnte. Die Demonstrationen allerorten zeigen, dass viele aufgewacht sind aus der Lethargie und sich einbringen wollen.

Die Politik muss den Zusammenhalt stärken.

Was können wir ganz konkret tun?

Braun: Jeder muss sich engagieren, sich stark machen. Wir spüren doch jetzt, dass die klare Mehrheit für die Demokratie einsteht. Millionen gehen auf die Straße. Aber das reicht nicht. Es muss auch im Alltag spürbar sein. Menschen dürfen sich nicht abgehängt fühlen, sondern wollen teilhaben. Jeder und jede kann Mitglied einer politischen Partei werden und das Wichtigste: Jeder muss wählen gehen.

Da ist dann aber auch die Politik gefragt, oder?

Braun: Ja, natürlich. Sie muss den Zusammenhalt stärken. Und das geht bestimmt nicht, indem man am Sozialstaat, an Kultur und politischer Bildung spart. Auch internationale Begegnungen und Austauschprogramme weiten den Blick.

Glauben Sie, dass man aus der Geschichte lernen kann?

Braun (lacht): Das wünscht sich jeder Historiker, dass man aus den Fehlern lernt! Sicher ist aber, dass unsere Verfassung sehr viel resistenter gegen politische Extreme ist als diejenige der Weimarer Republik. Tatsächlich schöpfe ich auch aus der Geschichte Hoffnung.
1923 gab es die Ruhrbesetzung, die die Hyperinflation verstärkte, eine extreme Verunsicherung der Gesellschaft, die KPD versuchte zu putschen, Hitler marschierte in München zur Feldherrnhalle. Trotzdem hat die junge Weimarer Republik diese schweren Krisen zunächst überstanden. Außerdem bleibt die biblische Trias ewig gültig: Glaube, Liebe, Hoffnung, wobei ich denke, dass die Hoffnung am wichtigsten ist.

Bernd Braun

Prof. Dr. Bernd Braun ist Historiker und leitet die Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg. Lehrauftrag am Historischen Seminar der Universität Heideberg, seit 2018 Honorarprofessor. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik.

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