Standpunkt: Film Elternschule
Der Film „Elternschule“ polarisiert: Er begleitet Familien in Ausnahmesituationenn in einer Kinder- und Jugendklinik. Gezeigt werden wütende und schreiende Kinder. Cristina Grovu kritisiert: Was im Fall von Krankheit unter ärztlicher Kontrolle möglich ist, darf kein Rezept für Familien mit normalen Problemen sein.
Der Film „Elternschule“, der im Oktober 2018 ins Kino kam, polarisiert und hat einen medialen Diskurs eröffnet, der für einen deutschen Dokumentarfilm seinesgleichen sucht. Er dokumentiert die Arbeit der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik, Allergologie und Pneumologie in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen.
Eine Petition für ein Ausstrahlungsende des Films und die Überprüfung des Klinikpersonals wurde von über 20.000 Menschen unterschrieben. Der deutsche Kinderarzt und Blogger Herbert Renz-Polster verurteilt die „Schamlosigkeit, mit der erzieherische Gewalt dargestellt, glorifiziert und auch medikalisiert wird.“
Zahlreiche Erziehungs-Blogger haben sich zusammengeschlossen und einen Gegenfilm mit dem Titel #Herzensschule veröffentlicht. Der Kinderschutzbund schreibt in einer Stellungnahme: „Die im Film gezeigten Praktiken in der Erziehung und Betreuung von Kindern verstoßen gegen geltendes Recht. Sie führen zu einer Verunsicherung von Eltern im Umgang mit Kindern.“ Sämtliche Leitmedien haben sich mit dem Film auseinandergesetzt, ihn zum Teil jedoch sehr positiv rezensiert.
Familien in Ausnahmesituationen
Was dokumentiert der Film? „Elternschule“ begleitet Familien in Ausnahmesituationen, die in der Erziehung ihrer Kinder an Grenzen stoßen und unter regelrechten Stresserkrankungen leiden. In der Gelsenkirchener Klinik durchlaufen die Kinder ein vielfältiges Training, basierend z.B. auf Stärkung des Ess- und Schlafverhaltens sowie der Bindungs- und Trennungsfähigkeit. Begleitend dazu erhalten die Eltern theoretischen „Erziehungsunterricht“.
Die Kamera folgt Kindern, die in Gitterbetten zum Schlafen in einem dunklen Raum geschoben werden. Da ist ein Mädchen, das 20 Minuten in Begleitung einer Schwester in einem isolierten Raum ihr Essen anstarrt. Ein dreijähriger Junge, der an der Hand der Mutter und einer Schwester um den See gezerrt wird. Immer wieder: Bilder von schreienden und wütenden Kindern.
Die Ursache der allgemeinen Entrüstung liegt an einem grundsätzlichen Missverständnis: Der Film zeigt Bilder, die nichts mit alltäglicher Erziehung zu tun haben, sondern Therapiemaßnahmen von diagnostizierten Krankheitsbildern darstellen. Man kann diskutieren, ob solche Maßnahmen angemessen sind, dann aber im therapeutischen Kontext.
Kein Erziehungsratgeber
Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer sind vermutlich Mütter oder Väter und schauen sich den Kinofilm mit einer anderen Erwartungshaltung an. Denn die Filmproduktion kündigt den Film als Erziehungsratgeber an. Auf der Website zum Film ist zu lesen, der Film biete Antworten auf Fragen wie: Wie gehen wir richtig mit unseren Kindern um – und mit uns selbst? Wie „ticken“ Kinder? Was brauchen sie von uns Erwachsenen – und was nicht?
Doch genau diese Antworten bietet der Film nicht. Liebe, Geborgenheit, emotionale Sicherheit und Empathie bleiben bei diesen harten Bildern auf der Strecke. Was in der klinischen Verhaltenstherapie möglicherweise unter ärztlicher Kontrolle in Ausnahmesituationen geht, darf und soll kein Rezept für Familien sein.
Selbst Fachleute sind sich über die gezeigten Methoden nicht einig, wie die Stellungnahme der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in Deutschland e.V. vom 22. November 2018 zeigt. Wenn der Film von Menschen als allgemeingültiger Erziehungsratgeber angesehen wird, ist das gefährlich.
Fühlen sich zum Bespiel ältere Menschen mit einem ganz anderen Menschenbild durch den Film in Ihrer Weltsicht bestätigt, kann das zu Konflikten zwischen den Generationen in der Familie führen. Der Film bringt nicht zusammen, sondern dividiert auseinander. Und spaltet genau da, wo Gemeinschaft so wertvoll ist: im Kern der Familie.
Cristina Grovu
Autorin Cristina Grovu, 1979 in Bukarest geboren, arbeitet in einer Kommunikationsagentur. Sie hat eine 5-jährige Tochter.
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Dieser Artikel ist sehr gelungen. Der Film erhebt keinen Anspruch darauf, ein Erziehungsratgeber für den „häuslichen“ Gebrauch“ zu sein. Das hat die Autorin gut erkannt und beschrieben. Vielen Dank dafür.
Den therapeutischen Ansatz kann man sicher fachlich diskutieren. Ebenso unterschiedliche philosophische Ansätze der Erziehung und des Menschenbildes. Aber es sollte vermieden werden, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.