Ethische Alltagsfragen
In unserer neuen Rubrik “Ethische Alltagsfragen” beantwortet der Philosoph Jay Garfield heute die Frage: Wie gehe ich damit um, wenn ich in meinem Job kritisiert werde, obwohl ich den Auftrag so gut ausgeführt habe, wie ich konnte?
Frage: Ich arbeite als PR-Beraterin. Vor einiger Zeit war ein Kunde sauer auf mich. Er beschwerte sich bei meinem Chef über meine Arbeit und stellte meine Expertise in Frage. Ich habe den Auftrag so gut ausgeführt, wie ich konnte. Wie soll ich in dieser Situation reagieren? Wie sollen wir mit Kritik umgehen?
Jay Garfield: Sie haben in der Frage nicht gesagt, ob die Kritik des Kunden gerechtfertigt war oder nicht. Das macht natürlich einen großen Unterschied.
Wenn die Kritik gerechtfertigt war, ist es sicher angemessen, sich zu entschuldigen, genau zu überlegen, was Ihr Anteil an der Situation war und daraus zu lernen. Kein Mensch führt ein Leben ohne Irrtümer und Fehler. Wir müssen uns nicht schämen, wenn wir Fehler machen und es sagt auch nichts über unsere menschliche Würde aus. Es ist einfach ein Aspekt unseres Menschseins.
Wir können aus Fehlern für uns selbst etwas lernen und dadurch auch die Beziehung zu anderen verbessern. Wir können darauf achten, solche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Wenn also die Kritik gerechtfertigt war, betrachten Sie die Situation ehrlich, entschuldigen sich aufrichtig und überlegen Sie, wie Sie Ihre Arbeit verbessern können. Trösten Sie sich damit, dass sich aus jeder Situation etwas machen lässt.
Aber möglicherweise war die Kritik nicht fair. Menschen sind sehr gut darin, andere für ihr Schicksal verantwortlich zu machen und sich dann über sie zu beschweren. Hier gilt das Gleiche: Schauen Sie sich die Situation noch einmal genauer an und bewerten Sie sie aufrichtig.
Können Sie erkennen, wie die Person, die sich beschwert hat, die Situation wahrgenommen hat? Was motivierte ihre Kritik? Es ist wichtig, das zu erforschen, denn solange Sie nicht sehen, wie Ihr Gegenüber zu seiner Meinung kam, wird es schwierig sein, angemessen zu reagieren, ohne die Verteidigungshaltung anzunehmen, denn das würde alles nur noch schlimmer machen.
Wenn Sie es schaffen, die Situation aus dem Blickwinkel des anderen zu betrachten – selbst wenn Sie sicher sind, dass er falsch gehandelt hat – können Sie Verständnis aufbringen und den Ärger loslassen. Und noch einmal: Kein Mensch ist ohne Fehler. Auch wenn der andere völlig falsch lag, so verdient er keinen Ärger, sondern eine behutsame Korrektur.
Also: Erkennen Sie die Wahrnehmung Ihres Gegenüber an, drücken Sie Ihr Bedauern aus, nicht für Ihre eigenen Handlungen, sondern für die Situation, die zu solchen Gefühlen von Frust beim anderen geführt hat. Und erklären Sie ihm, wie Sie selbst die Situation sehen.
Vielleicht möchten Sie Gespräche mit Ihrem Kunden und Ihrem Chef führen, aber sorgen Sie dafür, nicht in diese Extreme zu fallen: Gestehen Sie nicht Dinge ein, die Sie nicht getan haben, und verteidigen Sie sich nicht gegenüber dem Kritiker. Beides hätte keinerlei Nutzen.
Ob die Kritik nun berechtigt ist oder nicht, das Wichtigste ist, in dieser Situation keinen Ärger zu entwickeln. Ärger hat noch nie irgendeine Situation verbessert oder ein Problem gelöst, und er würde Sie und den anderen verletzen. In beiden Fällen ist eine Person das Opfer verzerrter Wahrnehmung und menschlicher Unvollkommenheit. Dies ist eine Gelegenheit, Fürsorge zu zeigen und nicht Feindseligkeit.
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