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„Europa muss die Grundrechte verteidigen“

Tomas Ragina/ shutterstock.com
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Interview zur Situation der Flüchtlinge in der EU

An der polnisch-belarussischen Grenze stecken tausende Geflüchtete ohne lebensnotwendige Versorgung fest. Ralph Achenbach arbeitet für die Organisation IRC, um Flüchtlinge weltweit zu unterstützen. Er fordert, dass Menschen wieder in den Mittelpunkt der Politik rücken und alle Geflüchteten ein faires Asylverfahren erhalten.

 

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Tausende Menschen harren in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze aus, ohne lebensnotwendige Grundversorgung. Mindestens acht Menschen sind schon gestorben. Wie sollte Ihrer Ansicht nach die EU reagieren?

Achenbach: Die Menschen brauchen dringend Hilfe. Der Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen muss sofort gewährleistet werden, um Nahrungsmittel, Wärme und Schutz bereitzustellen und drohenden Erfrierung oder dem Tod durch Hunger entgegenzuwirken.

Wir wissen aus unserer Erfahrung als humanitäre Hilfsorganisation, dass Hilfe schneller, effektiver und effizienter ankommt, wenn sie von lokalen Hilfsorganisationen geleistet wird. Deshalb sollten vor allem auch lokale Organisationen Zugang erhalten.

Für die geflüchteten Menschen an der Grenze muss kurzfristig der Zugang zu Asylverfahren gewährleistet werden. Das ist ein Grundrecht, dabei ist es egal, wie die Menschen an die Grenze gekommen sind.

Hier machen wir uns große Sorgen, weil dieses Grundrecht auch von europäischer Seite untergraben wird. Einmal in einer Rhetorik, mit der die Geflüchteten pauschal verurteilt werden. Aber auch in den Handlungen, wenn Notleidende von Polen, einem EU-Mitgliedsstaat, zurückgedrängt werden. Die Pushbacks sind illegale Handlungen und müssen entschieden verurteilt werden.

Wenn das nicht geschieht oder wenn wir dieses Verhalten sogar gutheißen, wie wir es jetzt in einigen Stellungnahmen führender deutscher Politikerinnen und Politiker gehört haben, dann trifft uns eine gewisse Mitschuld. Dadurch untergräbt die EU auch ihre eigene Glaubwürdigkeit.

Auf Dauer brauchen wir in der EU eine vorwärtsschauende, langfristig angelegte Antwort auf Vertreibung, Flucht und Aufnahme. Nur auf Krisen zu reagieren, reicht nicht aus.

„Jeder Schutzsuchende hat Anspruch auf ein faires Asylverfahren in Europa“.

Wäre es Ihrer Ansicht nach geboten, die Menschen der polnisch-belarussischen Grenze nun aufzunehmen? Oder sollten auch Bemühungen unternommen werden, sie sicher und mit Unterstützung wieder in ihre Heimatländer zu bringen, wenn das vertretbar ist?

Achenbach: Hier ist die Rechtslage eigentlich klar. Jeder schutzsuchende Mensch hat ein Recht darauf, ein Asylgesuch zu stellen und ein faires Asylverfahren zu bekommen. Dieses Grundrecht sagt noch nichts über den Ausgang des Asylverfahrens aus. Dieses Verfahren muss aber fair und transparent sein und über den rechtlichen Status und die Schutzbedürftigkeit der Menschen entscheiden.

Längerfristig müssen wir dafür sorgen, dass Geflüchtete nicht als politisches Druckmittel instrumentalisiert werden, wie das jetzt passiert. Die Menschen müssen im Mittelpunkt der Politik stehen, wenn es darum geht, mit den Herausforderungen, die sich aus Vertreibung, Flucht und Aufnahme ergeben, umzugehen. Dazu gehört, dass wir als Weltgemeinschaft mehr diplomatische Energie und Zeit investieren müssen, um Lösungen für die Konflikte der Welt zu erarbeiten.

Wie könnten Geflüchtete mehr unterstützt werden?

Achenbach: Schauen wir uns die Thematik von Vertreibung und Flucht auf globaler Ebene an: ca. 86 Prozent der Menschen, die von Flucht betroffen sind – das sind derzeit mehr als 80 Millionen Menschen – werden von Ländern in unmittelbarer Umgebung der Krisenherde aufgenommen. Dies sind Länder mit geringerer Wirtschaftskraft und weitaus geringeren Einkommen als in der Europäischen Union. Diese ersten Aufnahmeländer brauchen unsere Unterstützung.

Weiter sollten wir für die schutzbedürftigen Menschen Möglichkeiten schaffen, um wirklich Schutz zu finden. Dafür gibt es z.B. das Umsiedlungsprogramm (Resettlement Program) der Vereinten Nationen. Unsere Forderung an die EU ist, bis zum Jahr 2025 mindestens 250.000 sogenannte Resettlement-Plätze zur Verfügung zu stellen.

Ein Resettlement-Programm identifiziert die schutzbedürftigen Menschen bereits in ihrem Herkunftsland oder in ihrer Herkunftsregion, also nach dem Übertritt über die erste Landesgrenze mit Eintritt in ein Aufnahmelager. Die Menschen werden mit einer geplanten Umsiedlung in Sicherheit gebracht. Die Entscheidung auf den Flüchtlingsstatus erfolgt schon vor Ort.

„Wir beobachten eine Verrohung der Sprache. Menschen werden als Bedrohung bezeichnet.“

Was kann jeder Bürger, jede Bürgerin tun, um zu einem guten Umgang mit Flüchtenden beizutragen?

Achenbach: Wir können uns darauf besinnen, dass hinter jeder Statistik, hinter jeder Zahl ein menschliches Schicksal steht. Ein Schicksal von Menschen wie wir, von Brüdern und Schwestern, Müttern und Vätern, Söhnen und Töchtern. Wir alle können dafür Sorge tragen, dass wir das Narrativ der Menschlichkeit lauter ertönen lassen. Damit es nicht übertönt wird von dem Narrativ der Populisten, die Ängste gegen Fremde schüren.

Die europäischen Regierungen wollen, ich sage es mal salopp, die rechte Flanke nicht öffnen, wollen harte Karte zeigen, damit nicht noch mehr Wählerinnen und Wähler zu den populistischen Parteien überwandern. Und natürlich ist das eine Gefahr.

Dem müssen wir entgegentreten, indem wir das Narrativ dere Menschlichkeit stärken.

Als Einzelner und Einzelne in der Gesellschaft haben wir auch konkret die Möglichkeit, die Lebensrettung der Menschen z.B. finanziell zu unterstützen, um unsere Werte zum Ausdruck zu bringen.

Es gibt Menschen in Deutschland und in der EU, die Angst vor einer unkontrollierten Migration haben. Wie kann man mit diesen Ängsten umgehen?

Achenbach: Es beginnt damit, dass wir schon auf der sprachlichen Ebene Vorsicht walten lassen. In der aktuellen Krise beobachten wir eine Verrohung der Sprache, wo Menschen als Waffen oder als Bedrohung beschrieben werden. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Zudem würde ich jedem raten, über einzelne menschliche Schicksale zu reflektieren und den Kontakt zu Geflüchteten zu suchen.

Wir als Organisation haben Studien durchgeführt, die belegen, dass der wirtschaftliche Beitrag von geflüchteten Menschen innerhalb einer stabilen Aufnahmegesellschaft mit großer Wirtschaftskraft wie zum Beispiel die USA und die Europäische Union positiv ist. Hier gibt es eine Evidenz dafür, dass sich diese Wirkung im Bruttosozialprodukt und höheren Steuereinnahmen aufzeigen lässt.

Das Gespräch über den Zuzug von Flüchtenden wird zu oft als ein Problem verhandelt. Aber diese Menschen sind ja auch eine Bereicherung für eine Gesellschaft. Das bleibt oft außen vor, wenn eine problemorientierte Diskussion geführt wird.

Achenbach: Ja, in der öffentlichen Debatte sprechen wir häufig von einer „Flüchtlingskrise“. Hier ist es wichtig zu betonen, dass die geflüchteten Menschen nicht die Krise sind. Die Krise ist der Grund dafür, dass die Menschen fliehen müssen.

An den zugrunde liegenden Dynamiken, die zu Vertreibung führen, haben wir in Europa einen Anteil, z.B. durch geopolitische Konflikte oder den Klimawandel.

Achenbach: Das stimmt genau. Und daraus kann man, von der Rechtsgrundlage ganz abgesehen, eine moralische Verpflichtung ableiten, den Geflüchteten zu helfen. Aber wenn der Fokus der EU auf Aufrüstung und Abschreckung liegt, wenn wir Grenzen sichern und Grenzwälle bauen, dann ist es nicht sehr verwunderlich, dass in der öffentlichen Meinung das Bild einer Bedrohung entsteht.

„Am wichtigsten für Geflüchtete sind Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt“

In den letzten Jahren hat uns auch der der Umgang mit den Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, beschäftigt. Wie ist ihr Blick auf diese Situation?

Achenbach: Langfristig brauchen wir eine bessere Unterstützung der EU-Mitgliedsstaaten, die an den Außengrenzen liegen. Es kann nicht sein, dass sie allein die Verantwortung für das Asylverfahren und die Aufnahme tragen. Es entspricht dem Grundprinzip der Solidarität innerhalb der EU, dass die Hauptlast nicht an den Außengrenzen bleibt.

Was sind aus Ihrer Erfahrung nach die Voraussetzungen für eine gute Integration von Geflüchteten?

Achenbach: Am wichtigsten sind Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt, um schnell Anschluss zu finden durch einen geregelten Tagesablauf. Ein sicheres Umfeld erleichtert die Kontaktaufnahme, den Spracherwerb und andere Komponenten, die für die Integration wichtig sind.

Viele Geflüchteten haben die Energie und den absoluten Willen, es zu schaffen. Und das ist sehr inspirierend. Als Aufnahmegesellschaft sollten wir das fördern und dieser Energie einen Raum geben.

Ralph Achenbach ist Geschäftsführer von International Rescue Committee (IRC) Deutschland, einer internationalen Hilfsorganisation mit Projekten in 40 Ländern weltweit. In Deutschland unterstützt IRC staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarktintegration sowie Schutz und Teilhabe. Die Organisation wurde 1933 auf Initiative von Albert Einstein gegründet. Ihm ging es um die Schutz politisch Verfolgter in dem von Nazis besetzen Europa.

Ralph Achenbach leitete von 2005 bis 2015 Integrationsprojekte in einer der größten IRC-Niederlassungen in den Vereinigten Staaten. Nach einem Studium in London und Cambridge arbeitete er mit benachteiligten Menschen im ländlichen Thailand und in China. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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