Maßlosigkeit ist die Krankheit unserer Zeit, diagnostiziert Reinhard Miegel die Krise heute. Nur wenn wir „die Kunst der Beschränkung üben“, könne Europa sich erneuern.
Was haben der neue Berliner Flughafen, der tägliche Verkehrsstau, Arbeitsstress und Staatsschulden miteinander zu tun? Sie alle sind, so Reinhard Miegel, Ausdruck von Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung. Dies ist das Thema des neuen Buches „Hybris – die überforderte Gesellschaft“, das der Sozialwissenschafter und bekannte Wachstumskritiker jetzt vorgelegt hat.
Der erste Teil des Werkes, auf über 180 Seiten, enthält Schauergeschichten aus dem ganz normalen Alltag, an denen der Autor die Krise der westlichen Kultur festmacht: Die Mobilität führe dazu, dass die Menschen nur noch unterwegs seien und „ziellos im Zustand der Raserei umherdriften“. Die Bildungspolitik mache den Menschen fit für Wachstum und Produktivität, vermittele aber keine Werte und schon gar keine Bildung. Die bezahlte Arbeit sei zum Lebensmittelpunkt für den Menschen heute geworden, mit der Folge, dass Stress und Überforderung um sich griffen. Die Kommunikationstechnik, die er mit der Atomenergie vergleicht, beherrsche den Menschen und nicht umgekehrt.
Auch auf nationaler und globaler Ebene führt Miegel viele Beispiele für Maßlosigkeit an: stetig wachsende Schuldenberge und den „Wettlauf der Staaten um den Ausbau des Sozialstaates“ und die Globalisierung mit ihren Schattenseiten wie Ungleichheit, Armut, Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch. „Europa steht vor dem Scherbenhaufen seiner Maßlosigkeit“ so das Ergebnis seiner Analyse, in der hin und wieder der Frust des 75-Jährigen durchbricht.
Welche Auswege Miegel aus der Krise sieht, erfährt der Leser im zweiten, erheblich kürzeren Teil des Buches. Hier plädiert er für die „Kunst der Beschränkung“ und gibt auch dafür Beispiele: intensiv das genießen, was man zur Verfügung hat, Dinge gemeinsam nutzen und mit anderen teilen. Für den Einzelnen gelte es, Ballast abzuwerfen und sich auf das zu besinnen, was er für wirklich wichtig erachte.
Miegel wirft viele wichtige Fragen auf, die zum Nachdenken anregen. Und er verfügt über die Gabe, eine Vogelperspektive einzunehmen und zu zeigen, wie alles miteinander zusammenhängt. Seine Kritik am System ist gut belegt und größtenteils nachvollziehbar. Und gewiss werden seine Gedanken vielen „Machern“ in unserer Gesellschaft die Augen öffnen und zum Innehalten einladen.
Doch dem Buch fehlt die visionäre Kraft, das Mitreißende. Die Idee der Beschränkung ist zwar richtig, aber nur ein kleiner Teil der Lösung. Man könnte auch sagen: Ein beschränkteres Leben als die Fixierung auf Konsum und Materialismus ist kaum vorstellbar.
Vielmehr brauchen wir Menschen eine neue Sicht, eine neue Perspektive für unser Leben – individuell und global. Und wir brauchen den Freiraum zu erkennen, was unsere Menschsein eigentlich ausmacht und wie wir den Menschen wieder ins Zentrum rücken.
Birgit Stratmann
Meinhard Miegel
Hybris. Die überforderte Gesellschaft
Propyläen Verlag, Berlin 2014
320 S., 22,99 €