Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Familien allein zu Hause

edwinsmom / photocase.de
edwinsmom / photocase.de

Resonanz in schwierigen Zeiten

Die Corona-Krise zwingt Familien, viel Zeit zu Hause zu verbringen. Die Nähe kann belastend sein, vor allem wenn Homeoffice und Kinderbetreuung parallel laufen. Pädagoge Steve Heitzer rät, sich von Zeit zu Zeit den Kindern intensiv zuzuwenden, auch körperlich. Denn wir brauchen Resonanz, um gut zu leben.

Ich weiß, es ist unmöglich, alle Einschränkungen im Zuge der Corona-Krise zu bewältigen und viele Eltern halten es schon jetzt kaum noch aus. Obwohl bei uns schon länger alle „aus dem Schlimmsten heraus sind“ – die Kinder und ich auch – erlaube ich mir dennoch, ein paar Sätze beizusteuern. In Laufe von 20 Jahren – auch mit Kindern – zeigte sich mir immer klarer eine Erkenntnis: Achtsamkeit bedeutet sich ganz einlassen.

Social distancing ist für mich schon jetzt das Unwort des noch recht jungen Jahres 2020. Ein Psychotherapeutin schlug kürzlich in einer Talkshow vor, es besser “physical distancing” zu nennen, schließlich dürften wir uns nicht sozial voneinander abwenden. Sonst wäre Distanzierung das neue „sozial“, zumindest draußen, außerhalb der eigenen vier Wände.

Drinnen ist das ganz etwas anderes. Da bekommen viele vielleicht mehr Nähe als sie sich je gewünscht hatten. Hier wird bei manchen die Not immer größer, besonders wenn auch Kinder da sind. Blöderweise geraten wir dabei leicht in einen Teufelskreis, den wir auch vor Corona schon kannten: Je mehr die Kinder das Gefühl kriegen, wir wollten sie loswerden, desto „engagierter“ werden sie. Die Kinder müssen ja schließlich auch auf Home office umsteigen. Die wickeln das allerdings nicht nur vor dem Computer ab, sondern auch mit uns ganz konkret und körperlich.

Physical engaging

Ganz augenscheinlich war das neulich bei einem Online Achtsamkeitstraining. Eine Teilnehmerin war mit ihrer neunjährigenTochter dabei. Die alleinerziehende Mama hatte ihren Platz auf dem Boden eingenommen. Beim Austausch nach der geführten Meditation war zu sehen, dass die Tochter permanent körperlichen Kontakt zu ihrer Mutter suchte.

Die Kleine legte sich daneben und schmiegte sich an sie. Sie setzte sich in ihren Schoß, sobald sie sich aufrichtete. Sie legte sich auf ihren Rücken, als sie bäuchlings und auf die Arme gestützt vor dem Laptop lag. Wieder im Sitzen begann sie schließlich von hinten die langen Haare ihrer Mutter zu bearbeiten. Es hatte nichts Störendes. Und auch die Mutter sagte nicht ein einziges Mal zur Tochter, sie soll damit aufhören. Kurioserweise war da auch noch eine Katze. Die pfiff genauso auf social distancing und übte sich stattdessen in gleicher Weise wie die Tochter im physical engaging. Immer wieder stieß sie wie ein Autoscooter mit dem Hinterkopf an die Schulter der Teilnehmerin, um zugleich auch maximal im Bild zu sein. Katzen wissen, wo die Musik spielt.

Sich ganz einlassen

Warum erzähle ich das? Es hat mich berührt. Neben der Achtsamkeit beschäftige ich mich seit vielen Jahren gerade mit diesem körperlichen Bedürfnis der Kinder. Kinder haben ein vielfach weit unterschätztes Bedürfnis, sich und andere körperlich zu spüren. Diese Situation mit Mutter und Tochter zeigte auch, dass das nicht nur auf Jungs zutrifft und dass es nicht nur um das Toben und Raufen geht.

Dieses Mädchen war in einem ständig fließenden Kontakt mit ihrer Mutter, glitt beinahe wie eine Schlange um sie herum. Ihre Kontaktaufnahme war wie das Weben eines Netzes, eine Praxis der Verbundenheit. Einer meiner wichtigsten Lehrer, Fred Donaldson, nannte es „practise of belonging“ Praxis, oder „Übung der Zugehörigkeit“. Ich betone das deshalb so, weil es so unscheinbar ist, weil wir oft so wenig Notiz davon nehmen und weil es nicht selten als Störung empfunden wird. Dabei ist es nichts anderes ist als der Wunsch des Kindes, in Liebe mit den Menschen verbunden zu sein. Ganz. Spürbar. Praktisch. Nicht nur theoretisch, irgendwie und sowieso; schließlich sind wir ja ihre Eltern.

Meine Erkenntnis der vergangenen 20 Jahre mit Kindern ist, dass sie uns helfen aufzuwachen – aus unserer Gedankenverlorenheit, aus dem Erledigungsmodus, aus dem Kopfkino und dem „Gefängnis unseres Denkens“, wie Eckhart Tolle das einmal drastisch nannte. Und da diese besondere Zeit der Krise nun für viele auch wie ein Weckruf ist, gilt das auch für unsere Beziehung zu den Kindern. Sie werden sich nicht damit zufrieden geben, dass die Eltern zwar immer irgendwie da vor dem Bildschirm sitzen, aber mit ihrer Aufmerksamkeit doch permanent woanders sind.

Sie müssen zwischendurch und zumindest für Augenblicke erleben, dass wir uns ganz einlassen. Dass wir nicht nur die Augen, sondern auch unser Herz von Zeit zu Zeit an sie richten und uns ganz zuwenden. Und wenn wir uns körperlich, mit Haut und Haar, einlassen, ist auch das Herz meist nicht weit weg.

Für einen Augenblick echter Nähe ist immer Zeit

Ich hatte dem körperlichen Miteinander der Mutter mit ihrer Tochter lange zugeschaut. Und ich war berührt von dieser Kontaktaufnahme seitens der Tochter. Aber so sehr es die Mutter zuließ, konnte ich nicht spüren, ob sie sich innerlich darauf einließ. Sie war ja schließlich gerade bei einem Online-Meeting. Grundsätzlich ist das aber der entscheidende Punkt. Fragen wir uns ehrlich: Wie viel Resonanz spüren die Kinder von unserer Seite? Ich befürchte, dass Kinder bei uns Eltern oft zu wenig Resonanz erfahren. Noch öfter in Zeiten wie diesen. Wie viel Blick-Kontakt gibt es zwischen uns und unseren Kindern – (k)einen Augen-Blick?

Die Kinder brauchen wenigstens Momente, wo wir ganz in Resonanz gehen. Hellwach, körperlich und von Herzen. Die gegenwärtige Notlage – auch Zuhause – verstärkt die Gefahr, dass wir vor lauter Bedürfnis nach Abstand und Zeit für uns, diesen Herzensruf der Kinder nicht hören oder zu lange überhören, weil alles andere wieder einmal wichtiger scheint. Aber was ist wichtiger als die Liebe unserer Kinder?

Wir können und müssen uns deswegen nicht ständig mit ihnen „beschäftigen“. Aber sie werden uns beschäftigen und tatsächlich zu stören anfangen, wenn wir darauf nicht antworten und in ehrliche Resonanz gehen, denn das brauchen sie zum Überleben. Es liegt an uns, den Teufelskreis von Nähe und gleichzeitiger Abwesenheit zu entdecken und zu durchbrechen, wenn wir uns zu oft sagen hören, wir hätten keine Zeit.

Für einen Augenblick und eine Begegnung von Herzen ist immer Zeit. Multi-tasking war mal wichtig und scheint es jetzt wieder zu sein. Aber wenn wir damit ständig alles irgendwie und halb machen, kommt niemand zu dem, was er oder sie braucht. Und vermutlich kommen wir auch nicht schneller weiter als wenn wir gerade jetzt allen diese Augenblicke (buchstäblich!) geben, nicht nur den Kindern, auch uns selbst. Mono-tasking, mit ganzer Aufmerksamkeit und eins nach dem anderen – das Wesen des Zen.

Wenn die Kinder sich wirklich nähren können an unserer Begegnung, werden sie auch satt. Und gehen wieder ihrer eigenen Wege. Aber es geht nicht nur um unsere Kinder, es geht auch um unser Leben. Es geht darum, auch unsere Liebe zurückzugewinnen. Gerade in Zeiten der Distanzierung eine Praxis der Verbundenheit zu kultivieren. Sie ernährt sich von Augenblicken der Nähe und Körperlichkeit. Spüren Sie mal wirklich wirklich, wenn ihr Kind Ihnen körperlich nahe ist. Innehalten im Körper. Innehalten in der Beziehung. Innehalten von Herzen.
Halten wir uns also bloß nicht auch noch unsere Kinder vom Leib. Sie könnten gerade jetzt für unsere Seele überlebenswichtig sein.

Steve Heitzer arbeitet seit zwanzig Jahren mit Eltern und Kindern. 2016 erschien sein Buch „Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit.“ im Arbor-Verlag. Sein nächstes Buch ist gerade in Vorbereitung.

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Kategorien