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Familienbande stärken durch die Krise

Halfpoint/ Shutterstock
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Interview mit Professor Schulte-Markwort

Es geht mehr, als man dachte, ist die Erfahrung vieler Familien in der Krise. Die familiäre Bindung könne sogar gestärkt werden, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort. Auch für Jugendliche seien neue Lernerfahrungen möglich. Dennoch sei eine Rückkehr zur Normalität wichtig.

 

 

Das Gespräch führte Agnes Polewka

Frage: Welche Erfahrungen machen Familien aktuell in der Corona-Krise?

Schulte-Markwort: Es gibt eine Erfahrung, die viele Menschen machen, die gerade im Homeoffice oder Homeschooling sind. Sie merken: Es geht mehr, als man gedacht hätte. Das geht mir auch so. Ich arbeite zwar in der Klinik, denke mir aber bei Videokonferenzen oft: Warum bin ich eigentlich so viel durch die Gegend gefahren?

Viele Schülerinnen und Schüler machen seit Wochen neue positive Lernerfahrungen. Wenn die Schulen klug darauf reagieren, lernen sie selbst daraus, wie man Schule flexibilisieren kann. Es gibt zum Beispiel Kinder, die mir sagen, dass sie zu Hause effektiver lernen als in der Klasse. Sie verstehen die Mathe-Aufgabe besser, weil die Eltern sie ihnen in Ruhe erklären.

Es gibt sehr erfolgreiche E-Learning-Erfahrungen. Man könnte daraus für die Zukunft ableiten, in allen Familien, in denen dies möglich ist, einen festen Homeoffice- und Homeschooling-Tag pro Woche einzuführen. Einen Tag, der ein wirklicher Familientag ist. Ich habe aber die große Sorge, dass die Schulen sich auf so etwas nicht einlassen werden, weil sie sich doch zu wichtig nehmen.

Beobachten Sie auch in anderen Bereichen ein Umdenken?

Schulte-Markwort: Mir fällt auf, wie respektvoll es den Menschen gelingt, den Abstand einzuhalten. Ich leite daraus ab, dass dies für viele Menschen durchaus angenehm ist. Vielleicht denken wir künftig mehr über althergebrachte Konventionen nach: Möchte ich anderen Menschen die Hand geben oder nicht? Wem gebe ich die Hand und wem lieber nicht? Wen verabschiede ich cheek-to-cheek?

Bei Kindern werden persönliche Grenzen oft überschritten. Man fasst Kinder nicht einfach ungefragt an oder streicht ihnen über den Kopf, der Meinung war ich schon immer. Als Kinderpsychiater würde ich es sehr begrüßen, wenn wir hier keine Automechanismen mehr haben.

Sie sprechen über Nähe und Distanz. Wie ergeht es Kindern und Jugendlichen, die ihre Freunde nicht persönlich treffen dürfen?

Schulte-Markwort: Es gibt viele Kinder, die sagen, ich vermisse meine Freunde sehr. Vor allem Jugendliche sind sehr stark auf die Kontakte zu Gleichaltrigen angewiesen. Viele intensivieren diese gerade über soziale Medien, aber das genügt natürlich nicht. Auch Online-Spiele oder Streams aus leeren Clubs, in denen ein DJ auflegt, sind natürlich nur ein milder Ersatz. Deswegen sind es auch die Jugendlichen, die sich schwerer mit der Situation tun, die mir sagen: Das ist anstrengend.

„Ich kümmere mich darum, dass Jugendliche entängstigt werden“

Ab wann wird eine Anstrengung so groß, dass die Psyche krank wird?

Schulte-Markwort: Das hängt sehr vom Einzelfall ab: Wie gut ist ein Jugendlicher innerhalb des familiären Kontextes aufgehoben? Wie viel Streit gibt es zu Hause? Wie beengt ist die Situation?

Nina Grützmacher

Eine Totalquarantäne kann unter beengten, schwierigen Verhältnissen sehr anstrengend sein und dann kann es durchaus sein, dass jemand mit einer depressiven Episode reagiert oder auch mit einer aggressiven Reaktion – und Hilfe braucht.

Für viele Abiturienten zerplatzen gerade Träume: Abi-Ball, Abi-Parties, Auslandaufenthalt – alles abgesagt. Wie wirkt sich das auf die Psyche aus?

Schulte-Markwort: Speziell bei den Abiturienten habe ich den Eindruck, dass viele sehr traurig und enttäuscht sind. Es ist deshalb extrem wichtig, dass wir besprechen, was für Alternativen es gibt, um diesen Lebensabschnitt ritualisiert zu beenden. Denn das ist sehr wichtig.

Welche Alternativen könnten das sein?

Schulte-Markwort: Wenn sich die Vernunft in unserem Land durchsetzt, sind wir im Sommer bei einigermaßen normalen Bedingungen. Da muss man dann ein bisschen kreativ sein und zum Beispiel eine Mundschutz-Party feiern.

Halten Sie das für realistisch?

Schulte-Markwort: Das hoffe ich sehr, ich setze mich auf jeden Fall sehr dafür ein. Ich nutze im Moment jedes Interview dazu, um zu sagen, dass wir tatsächlich damit aufhören müssen, übervorsichtig zu sein. In Hamburg ist noch niemand an Covid-19 gestorben, der keine Vorerkrankung hatte. Ich bin der Ansicht, dass wir gerade eine dramatische Fehlentscheidung zu bewältigen haben.

Diese Erkrankung ist nicht so gefährlich, wie alle dachten. Bei Kindern und Jugendlichen ist der Verlauf zu 99 Prozent asymptomatisch. Bei allen anderen – bei Ihnen und bei mir – zu 80 Prozent milde. Wir haben es gerade mit einem Massen-Angst-Phänomen zu tun. Deshalb kümmere ich mich darum, dass die Jugendlichen entängstigt werden. Ich versuche, ihnen Hoffnung zu vermitteln.

Junge Menschen sind nicht nur viel zu Hause, es fallen auch viele Betreuungsangebote weg.

Schulte-Markwort: Deshalb bin ich auch empört darüber, dass einige kinderpsychiatrische Kliniken wegen Corona im Moment schließen. Ich finde das nicht richtig und verstehe es nicht. Wenn wir die Kinder aus diesen Kliniken entlassen, tun wir so, als ob ihre psychischen Symptome und Probleme nicht wichtig sind – nur, weil dieses Virus durch die Luft fliegt. Das finde ich dramatisch.

Wenn ein Kind mit psychischen Problemen sagt, ich möchte aktuell nicht behandelt werden, dann würde ich das selbstverständlich respektieren. Das ist bislang aber noch nicht vorgekommen. Sie wollen gerne weiterbehandelt werden.

Manchmal machen wir das per Videotechnik. Darüber, dass die Kinder und Jugendlichen uns ihr Zuhause zeigen, kommen manchmal auch neue Themen auf und wir erweitern unser Spektrum. Das ist aber die kleinere Gruppe, die meisten kommen und das ist unter Einhaltung der Abstandsregelungen auch gar kein Problem.

Rituale helfen gegen Unsicherheiten

Welche Strategien helfen Familien, eine Eskalation in Krisenzeiten zu vermeiden?

Schulte-Markwort: Am hilfreichsten ist eine möglichst gute Alltagsstruktur. Ich empfehle immer, zur selben Zeit aufzustehen wie zu Schulzeiten – Eltern und Kinder. Man sollte sich auch so anziehen, als ob man zur Schule oder zur Arbeit ginge und dann gemeinsam beim Frühstück den Tag planen, zum Beispiel: Ich mache nun eine Stunde Homeoffice, du eine Stunde Deutsch, dann machen wir eine Pause auf dem Balkon und arbeiten anschließend gemeinsam am großen Esstisch. Rituale helfen immer gegen Unsicherheiten. Sie sind inbesondere in unsicheren Zeiten oder Situationen etwas sehr Hilfreiches.

Ganz unabhängig von der aktuellen Krise: Wie zementieren Familien ein gutes Fundament ihres gemeinsamen Lebens?

Schulte-Markwort: Wenn es gut läuft, dann haben Familien jetzt erlebt, dass sie eine Krise gut gemeistert haben. Das stärkt die Familienstruktur, die Bande untereinander und das Wir. Es stärkt Bindung und Respekt – beides sind ganz zentrale Werte innerhalb des Familiengefüges. Mit Bindung meine ich die Verlässlichkeit, die Einfühlung, die Empathie, die Bereitschaft, für einander da zu sein. Das zweite Kernelement ist ein respektvoller Umgang. Wenn man mit Kindern respektvoll umgeht, dann antworten sie auch mit Respekt.

Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort (63) ist seit 2010 ärztlicher Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und seit 2014 hier ärztlicher Leiter des Zentrums für Psychosoziale Medizin. Ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Erforscht unter anderem die Auswirkungen unseres gesellschaftlichen Alltagslebens auf Kinder und Jugendliche und hat zahlreiche Ratgeber für Eltern verfasst.

Buch-Tipp: Michael Schulte-Markwort, Familienjahre, Wie unser Leben mit Kindern gelingt, 2019, Droemer Verlag, 304 Seiten

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Danke für das Interview. Es ist gut, verschiedene Perspektiven kennenzulernen. Allerdings widerspreche ich der Einschätzung: “Ich bin der Ansicht, dass wir gerade eine dramatische Fehlentscheidung zu bewältigen haben. Diese Erkrankung ist nicht so gefährlich, wie alle dachten. Bei Kindern und Jugendlichen ist der Verlauf zu 99 Prozent asymptomatisch. Bei allen anderen – bei Ihnen und bei mir – zu 80 Prozent milde. Wir haben es gerade mit einem Massen-Angst-Phänomen zu tun.”

Vor einigen Tage hatte ich Gelegenheit, mit einem befreundeten Philosophen in den USA zu sprechen. Er schätzt den Umgang mit Corona dort als verheerend verfehlt ein. In den Städten in seiner Umgebung steigt die Zahl der Infizierten dramatisch an. Er und vor allem seine Frau wären bei einer Infektion lebensgefährlich betroffen. Die Bilder aus Italien, Frankreich oder der USA hat sicher auch Herr Schulte-Markwort gesehen. Alles nur falsche Panik?

Auch kann ich kaum nachvollziehen, dass ein Wissenschaftler, auch wenn er kein Virologe ist, eine solche Fehlbeurteilung von Kausalität unterliegt. Die Infektionszahlen in Hamburg sind erfreulicherweise gesunken, ja. Aber nicht weil das Virus harmlos ist, sondern gerade weil geeignete Maßnahmen zur Eindämmung getroffen wurden. Die Argumentation ist etwas so wie wenn die Feuerwehr einen Brandherd erfolgreich unter Kontrolle gebracht hat, und dann jemand sagt, seht doch, es war doch alles nur Panikmache. War doch gar nicht so schlimm.

Mich wundert auch die Chuzpe, mit der der Psychiater die Erkenntnisse der Virologen und Epidemiologen als Angst-Phantasmen abtut, obwohl er nicht vom Fach ist.

Einen Dank an Christof Spitz, denn die Einschätzung von Herrn Schulte Markwort ist auch aus meiner Sicht äußerst problematisch.
Allerdings danke ich ihm für seinen Ärger über sie Schließung der Kliniken und vielen anderen Einrichtungen für psychisch Kranke. Diese Menschen sind Patienten wie andere auch! Wieso gibt es hier weniger Sorgfalt?

Mit herzlichen Grüßen Guido Peltzer

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