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Flüchtlinge: Nach Spanien oder zurück in die Ukraine?

Drop of Light/ Shutterstock
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Eine Schicht im Willkommenszentrum am Hamburger Hauptbahnhof

Hundertausende Menschen flüchten aus der Ukraine, viele landen auch in unserer Nähe. Birgit Stratmann hilft ehrenamtlich im Willkommenszentrum am Hamburger Hauptbahnhof und beschreibt, welche Geschichten sie in einer einzigen Morgenschicht gehört hat. Eines ist sicher: Helfen hilft.

„Fallingbostel oder Frankreich?“ Die fünfköpfige ukrainische Familie schaut uns fragend an. Es ist 6.15 Uhr, Morgenschicht im Willkommenszentrum des ASB am Hamburger Hauptbahnhof. Die Aufgabe unseres ehrenamtlichen Teams ist es, den Geflüchteten zu helfen, wenn sie ankommen und z.B. den Weg zur Erstaufnahme suchen.

Die Fünf sind gerade mit dem Zug angekommen. Offensichtlich sind sie nicht orientiert, wo sie sind, und wissen auch nicht, wohin sie gehen sollen. In die Großstadt oder aufs Land? Nach Fallingbostel, wo es an dem Tag offenbar noch freie Schlafplätze in der Erstunterkunft gibt, oder doch weiter nach Frankreich, was immer sie damit verbinden?

Verwandte oder Freunde haben sie in Europa nicht. Es ist ein Kaltstart in einer anderen Welt – nachdem sie dem Schrecken des Krieges knapp entronnen sind. Während sie noch überlegen, sammeln sich Trauben von Menschen aus der Ukraine.

Wer Glück hat, kann zu Freunden reisen – eine Mutter mit Kind will nach Kopenhagen, eine Familie nach Frankfurt zu Verwandten. Wir buchen für sie ein Zugticket – die Bahn befördert alle mit einem ukrainischen Pass gratis. Wer die Regionalzüge nutzt, braucht nicht einmal eine Fahrkarte, der Ausweis reicht.

Schnappschuss aus dem Willkommenszentrum für Flüchtlinge, B. Stratmann

Zwei Familien, sieben Menschen und zwei Hunde, wurden in der Erstaufnahme in Hamburg abgewiesen, weil dort keine Haustiere erlaubt sind. Vermutlich ist das in anderen Städten nicht anders. Aber offenbar wollen sie alle zusammenbleiben – die Menschen und die Hunde. Wir können nichts tun.

Ein junger Mann bahnt sich den Weg zur Dolmetscherin; sie sind die ersten Ansprechpartnerinnen, um in Erfahrung zu bringen, was gebraucht wird. Er hat einen usbekischen Pass und in der Ukraine studiert. Nun ist er vor dem Krieg geflohen, jedoch nicht im Besitz eines Visums, wie es für die meisten Nicht-EU-Mitglieder nötig ist. Das scheint bei seiner Einreise nach Deutschland niemandem aufgefallen zu sein.

Natürlich ist es nicht die Aufgabe von Ehrenamtlichen, solche Fragen zu entscheiden: Kann er ins Aufnahmezentrum gehen, ohne ein Visum zu haben? Oder gibt es Probleme wegen „illegalen Aufenthalts“?

Der Mann trinkt erst mal einen Tee und überlegt, ob er vielleicht zu seiner Botschaft Kontakt aufnehmen kann. Ein junger Afghane gesellt sich dazu mit genau dem gleichen Problem. Es gibt viele Studierende, die jetzt aus der Ukraine kommen, aber nicht im Besitz eines ukrainischen Passes sind.

Im Urlaub Flüchtingen helfen

Im Willkommenszentrum, das von Freiwilligen des Arbeiter-Samariter-Bundes umsichtig, mit großer Hingabe und Liebe zum Detail organisiert wird, werden Kaffee, Tee, Brote und Schokoriegel angeboten. Manchmal gibt es Obst und Nüsse. Viele Geflüchtete sind nach einer langen Nacht hungrig und froh, etwas zu bekommen. Eine Helferin hat das Kochen von Heißgetränken übernommen, was nicht so einfach ist, weil es keinen Wasseranschluss gibt.

Läden und Restaurants im Hauptbahnhof spenden und verschenken Gutscheine. Es passiert auch, dass Hamburgerinnen spontan irgendetwas vorbeibringen. Die Kooperationsbereitschaft ist riesig, z.B. von der Deutschen Bahn, die ein Teil ihres Reisezentrums zur Verfügung stellt.

Die Brote sind schnell weg. Wir holen Nachschub beim Bäcker im Bahnhof und haben alle Hände voll zu tun. Wir, das sind fünf Dolmetscher, die einen großartigen Job machen – selbstlos und geduldig. Und fünf engagierte Helferinnen und Helfer, die sich über eine Whatsapp-Helferliste beim ASB für diese Schicht gemeldet haben. Die Teamleiterin heute früh ist Lehrerin. Sie packt in den Schulferien zwei Wochen ehrenamtlich mit an und ist morgens schon um 5 Uhr da.

In einem Schrank liegt ein Vorrat an Spielsachen, Hautcreme, Babywindeln, Tampons, Mund-Nasen-Schutz, Hunde- und Katzenfutter. Und Münzen für das WC, denn die meisten haben keine Euro, und ukrainisches Geld nehmen die Banken nicht an.

Ein kranker Mann, allein unterwegs

Ein Mann, vielleicht Mitte 40, hager und kränklich, kommt herein und lässt sich müde zum Sitzen auf den Boden fallen. Er will nichts essen, nichts trinken und auch nirgendwo hinfahren. Dann erfahren wir: Der Mann hat Krebs und konnte die Chemo-Behandlung am 2. März nicht machen, weil das Krankenhaus zerstört wurde. Er braucht ärztliche Hilfe.

Der Ukrainier ist noch nicht registriert. Kann er trotzdem ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen? Unsere Teamleiterin erklärt ihm den Weg zum Universitätsklinikum Eppendorf. Dort in der Notaufnahme soll er sich melden, da könne er möglicherweise Hilfe bekommen.

Er ist allein unterwegs. Sein Schicksal geht mir nach, sein ernstes Gesicht geht mir nicht aus dem Kopf. Ein offensichtlich schwer an Krebs erkrankter Mensch ist allein auf der Flucht – nur mit einer kleinen Reisetasche, die er sich umgehängt hat. Mehr erfahren wir nicht. Der Krieg ist grausam, trifft er doch gerade die Schwächsten am härtesten.

Weitere Menschen aus der Ukraine stehen Schlange. Eine Mutter mit zwei weinenden Kindern. Wir bieten aus unserer Kinderkiste Kuscheltiere an, die sie mitnehmen dürfen. Aber sie sind völlig übernächtigt und nicht zu beruhigen. Die Mutter ist unglaublich tapfer und standhaft. Sie will nach Kiel. Ein Helfer bringt sie zum Gleis.

„Ich fahre zurück in die Ukraine“

Dann stehen drei ältere Menschen und ein Enkelkind vor uns, zwei Frauen und ein Mann ca. Mitte 70. Sie sind sich, wie die Dolmetscherin herausfindet, während der Flucht begegnet. Und sie sind uneins, wo sie hingehen könnten.

Die eine Frau spricht ein paar Brocken Spanisch und meint, dass Spanien gut ist; wie weit es denn bis dahin sei. Die andere denkt über Amsterdam nach. Der Mann sieht etwas verloren aus, er spricht nur Ukrainisch. Er kommt vom Land, besitzt kein Handy und holt eine Kladde heraus. Darin stehen handgeschrieben drei Worte: Hamburg, Berlin, Brüssel. Er kann damit nichts anfangen und die drei diskutieren eine Zeit hin und her.

Der Mann ist total überfordert, die Stimmen werden lauter, bis er schließlich sagt: „Ich fahre zurück in die Ukraine. Ist mir egal, ob ich sterbe“. Betretenes Schweigen. Dann die rettende Idee: erst mal raus aus der Großstadt in die Erstunterkunft nach Neumünster. Dann können sie immer noch in Ruhe weiter überlegen.

„Man müsste Putin mal für einen Tag an solche Orte bringen zum Arbeiten, damit er sieht, welches Leiden er mit seiner Regierung verursacht“, sagt ein Helfer. Aber da Putin ein Herz aus Stein hat, wird das vermutlich nichts nützen. Denn gewiss sieht er die Horrorbilder der Zerstörung, die er in der Ukraine anrichtet, und lässt weiter auch auf die Zivilbevölkerung Bomben werfen.

“Eine andere Intensität als 2015”

Hamburgs Innenminster Andy Grote spricht auf einer Pressekonferenz Mitte März 2022 von einer historischen Ausnahmesituation, die Hamburg gerade erlebt. »Das ist eine andere Intensität als 2015. Irgendwo zwischen 12.000 und 15.000 Menschen werden wir in der Stadt haben«, sagt er.

Es kommen zurzeit 1000 Menschen pro Nacht allein nach Hamburg. Sie sehen aus wie Reisende, aber jede und jeder hat eine eigene Geschichte von Flucht, Vertreibung, Todesangst und Trennung mit im Gepäck.

Bei aller Kritik an den Behören, weil es mit dem Registrieren und Organisieren nicht so schnell klappt, wie gewünscht, so ist doch beeindruckend zu sehen, was Staat und Zivilgesellschaft in kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben:

Es gibt die Willkommenshilfe an den Bahnhöfen und den zentralen Aufnahmezentren, engagierte Ehrenamtliche, die Unterstützung selbst organisieren, dann die Städte und Kommunen, die blitzschnell Wohnraum und die Versorgung für Zehntausende Menschen schaffen müssen, medizinische Versorgung, kostenlosen Transport, Kleiderkammern, eine riesige Spendenbereitschaft der Bevölkerung und Menschen, die Ukrainer bei sich aufnehmen.

Die Flüchtlinge, die es hierher geschafft haben, erfahren in ihrem Unglück viel Unterstützung. Eine total erschöpfte Frau kommt herein. Sie sieht eine Liege, die im hinteren Teil des Raumes auf dem Boden mit Decken und Kissen ausgelegt ist, stellt ihr kleines Gepäck ab und legt sich hin. Sie schläft mindestens eine Stunde tief und fest, ohne von dem Trubel um sie herum Notiz zu nehmen.

Offenbar fühlt sie sich hier sicher. Und das ist sie auch, dank der vielen Menschen, die sich kümmern, und einem humanen Staat, der sicher nicht perfekt ist, aber die menschliche Würde achten will.

Birgit Stratmann

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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