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Frei von der Leber weg?

Jo Magrean
Jo Magrean

Philosophische Kolumne

Gestern habe ich ganz ungefragt und leider auch ohne jeden Zwang die Wahrheit gesagt. Sollte es nach Karl Kraus gehen, so verdiente ich keinerlei Nachsicht. Für ihn ist zwar eine Notlüge verzeihlich, nicht jedoch das unverblümte Aussprechen dessen, was man für die Wahrheit hält.

Unwillkürlich drängt sich mir nun die Frage auf: Würde Karl Kraus immer noch so urteilen, angesichts einer gesellschaftlichen Realität, in der das Verhehlen, Vertuschen, Tricksen, Taktieren, Schwindeln und Belügen längst zur Normalität geworden ist?

Würde er auch heute noch für Zurückhaltung plädieren und ein spontan-freimütiges Wort tadeln – in Anbetracht einer Szenerie, in der niemand mehr ernsthaft verwundert ist, wenn offenbare Tatsachen geleugnet werden, während man ungeschminkte Lügen locker durchwinkt. Auf der Jagd nach kurzfristigen Erfolgen und hoch schnellenden Verkaufszahlen lebt es sich zurzeit recht ungeniert in atemloser Lügen-Taktung und aufgeheizter Stimmungslage.

Wer sich davon machen will, muss schnell begreifen, dass das Lärmen durchgedrehter Skandale, überkandidelter Influencer, schnaubender Wutbürger und dazu passender Parteiauftritte ihn mit gnadenloser Persistenz bis tief hinein in jeden seiner Seinsakte hinein verfolgt. Also, frage ich noch einmal: Müsste Karl Kraus mich nicht eigentlich eher loben für die kleine, etwas vorlaute Grausamkeit meines gradlinigen Statements? Und außerdem, wie sollten milde Nachsicht und Behutsamkeit überhaupt noch Anklang finden im Klima cooler Machtversteifung und hoffnungsloser Selbstverkrallung?

Zweifellos trifft zu, dass wir einander mit Sanftheit begegnen sollten, zweifellos wäre es wünschenswert, stets ein feines Gespür für das jeweils Zumutbare aufzubringen. Denn ohne Höflichkeit und rücksichtsvolle Umgangsformen fehlt – hier ist Schopenhauer unbedingt zuzustimmen – jenes hilfreiche Luftkissen, das zwar inhaltslos ist, aber dennoch die Stöße des Lebens abzudämpfen vermag.

Wichtigstes Merkmal des Taktes ist seine Zartheit, die das allzu Ausdrückliche vermeidet und sich so schnell keine verletzenden Affekteruptionen erlaubt. Wer stattdessen mit schwerem Geschütz auf die Fehler anderer losgeht, läuft Gefahr, viele Dinge zu übersehen: die Komplexität individueller Motivationslagen, die unzähligen blinden Flecken eines jeden, die limitierte (moralische) Verlässlichkeit der meisten, nicht zuletzt der eigenen Person, vor allem aber ignoriert er die unwägbare Verletzlichkeit der menschlichen Seele.

Bedenkt man es also recht, dann lässt sich die heilsame Wirkung rücksichtsvoller Umgangsformen nicht ernsthaft in Abrede stellen. Demnach sollte ich wohl Reue empfinden, denn in einer Gesellschaft ganz ohne moderates Maß und diskrete Zurückhaltung, ganz ohne kleine Notlügen und Schwindeleien wäre es, ich sehe es ein, schlichtweg nicht auszuhalten.

Doch was soll das heißen? Ist es denn überhaupt noch auszuhalten? Sind wir etwa nicht schon längst weit abgedriftet von allen hehren Benimmidealen und dort angekommen, wo Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl im Miteinander primär durch Abwesenheit glänzen? Erleben wir nicht unablässig den Aufeinanderprall selbstgewisser Egomanen und überreizter Selbstdarsteller? Ist die Verrohung der Umgangsweisen nicht schon lange alltäglich im öffentlichen Raum:

im Straßenverkehr zum Beispiel oder auf den hochpolierten Einkaufsmeilen, selbst im beschaulichen Lichterglanz der Weihnachtsmärkte, wenn Glühweinselige uns grölend auf die Schulter kumpeln, ja sogar im weit entlegenen Waldgebiet, wo man Stille und Zuflucht suchen mag und vom vermummten – wie aus dem Nichts hervorschießenden – Biker-Mamil mit „Hau ab du Alte“ in die Büsche gefegt wird? Eiseskälte lässt nicht nur die Tannenspitzen gefrieren – Temperatursturz allerorten, Anfeindungen, Mobbing, anonyme Beleidigungen im Netz, das gleichermaßen als Mitverursacher und Symptomträger unablässigen Niedergangs zu betrachten ist.

Was aber teilt uns der Ehrlichkeitsfanatismus brüllender und tobender Zeitgenossen über die angebliche Wahrheitsliebe des Menschen mit? – Sehr viel vielleicht, denn immerhin treten hier die nackten Tatsachen vollkommen ungeschliffener Schreihälse zu Tage, die glauben, im Auskotzen spontaner Affektanwandlungen ihr verbrieftes Recht auf autonome Selbstentfaltung auszuleben.

Ein Faktum wird hier auf jedem Fall erkennbar: ein eklatantes Defizit an emotionaler Bildung. Wir sehen nämlich: Wenn man es nicht anders gelernt hat, gewinnt jede intensive Gemütserregung mehr Überzeugungskraft als irgendein noch so kluger und abgewogner Gedanke. Oder besser gesagt: Ideen, Parolen, Leitsätze ergreifen vor allem dann das Gemüt, wenn sie dazu beitragen, das Ressentiment zu nähren, der Wut einen Namen zu geben, der Angst einen Ausweg zu verheißen, oder – was vielleicht das allerwichtigste ist – uneingestandene Scham zum Verschwinden zu bringen.

Zeigt sich hier nicht unverschleiert, wie sehr unser Fürwahrhalten in dunklen affektiven Gründen wurzelt? Wird die emotionale Herkunft unseres Weltverstehens nicht gerade dann offenbar, wenn Gründe zu Abgründen werden? Eine jede Erkenntnis vollzieht sich nach William James nur zur Hälfte im Lichtkreise des Bewusstseins, das Übrige entspringt dem „dunklen Boden verborgener Innerlichkeiten, einem Seelenzustand, auf dessen Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.“

Wenn es so um uns bestellt ist, dann müssten wir, um wieder tatsachenfähig zu werden, gewissermaßen bereits tatsachenfähig sein. Wir müssten uns der Lügenversuchung ins Selbst hinein stellen, um ihr zu widerstehen, wir müssten bereit sein einzusehen, dass rationales Denken und alle vermeintlich hohen Absichten ohne Herzensbildung null und nichtig sind.

Vor allem aber müssten wir die notorische Instabilität unserer Natur einräumen und reaktiv mit Nachdruck die alte Kunst der Selbstdisziplin wieder aufleben lassen. Wir müssten wieder Sinn darin finden, Selbstinszenierungsbedürfnisse zurückzuschrauben und Wartefähigkeiten zu kultivieren. Wir müssten das Aushalten und Ausgleichen von Spannungen anstreben und vieles mehr.

Vorab wäre schon mal festzuhalten: Wahrheit ist nicht das, was uns in den Kram passt. Deshalb erledigt sich die Wahrheitsfrage auch nicht im aufrichtigen – „authentischen“ – Ausdruck unserer innersten Spontanideen und Befindlichkeiten. Im Gegenteil: Redliches, unvoreingenommenes Bemühen um Klärung von Sachfragen erweist sich vermutlich darin, primär den Eingebungen der eigenen Person mit Skepsis zu begegnen und die eigenen Grenzen zu sehen.

Auch ein grades Wort – so begreife ich jetzt – kommt zunächst von wer weiß woher, weil wir alle mehr oder weniger in unseren Lebensläufen festsitzen und erst mühsam lernen müssen, beherzt ins Freie zu treten und Dinge vom Standpunkt anderer aus zu betrachten. Eine Frage bleibt indes: Kann ich einem anderen, mit dem partout nicht zu reden ist, weil er unablässig der Selbstverabsolutierung verfällt, diese Wahrheit auf den Kopf zu sagen, ohne mich in Widersprüche zu verstricken?

Heidemarie Bennent-Vahle, 24. Januar 2019

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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