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Frieden ist eine Qualität

kelvin-han/ unsplash
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Momente der Achtsamkeit

Der Krieg gegen die Ukraine erschüttert die Menschen in Europa. Achtsamkeitslehrerin Julia Grösch ermutigt dazu, sich trotzdem im Alltag dem inneren Frieden zuzuwenden und Momente der Verbundenheit zu stärken. Inneren Frieden zu erfahren heißt nicht, die Augen vor Konflikten zu verschließen, sondern Polarisierung zu überschreiten.

Ist es uns erlaubt, angesichts der schrecklichen Bilder von Krieg und Flucht inneren Frieden zu empfinden? Dürfen wir im Wissen um Hunderttausende Flüchtlinge auf einer Wiese in der Frühlingssonne sitzen, dem Treiben der Hummeln zuschauen und im Frieden sein, obwohl die Welt so ist, wie sie jetzt gerade ist? Oder könnte die innere Bewegung, sich immer wieder dem Frieden zuzuwenden, sogar eine wichtige Arbeit sein, die in dieser Zeit getan werden muss?

Am ersten Sonntag nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des Krieges in der Ukraine waren mein Mann und ich im Odenwald unterwegs. Es war ein traumhaft schöner Frühlingstag, der Himmel über uns wolkenlos blau. Von einer Anhöhe aus schauten wir auf die Dörfer und Höfe, die eingebettet zwischen den sanften Hügeln des vorderen Odenwalds liegen.

Im noch lichten Buchenwald zwitscherten die Vögel, aus der Ferne war das Bellen eines Hundes zu hören. Die Sonne schien warm, der Wind hatte sich auf Sanftheit verlegt. Wir lagen im Gras und schauten auf die Welt, erfüllt und getragen von vollkommenem, umfassendem Frieden.

Innerer Frieden, das ist mir in diesem Moment noch einmal bewusst geworden, kann auch in Zeiten großen Leidens erfahren werden. Es ist unsere Hinwendung zum inneren Frieden als einer Qualität, die Frieden im Außen wachsen lässt – und wir brauchen dringend Menschen, die bereit sind, diese innere Arbeit zu tun.

Konflikte nähren sich von Polarisierung. Es braucht dann Menschen, die darin geübt sind, aus dem gedanklichen Kampf von „falsch“ gegen „richtig“, „gut“ gegen „böse“ auszusteigen. Es braucht Menschen, die mit Interesse zuhören und die es vermögen, alle Kränkungen, Verletzungen, Ängste und Beschämungen aufzunehmen und diese wie in eine große goldene Schale zu legen, damit alles sichtbar und sortiert daliegen kann.

Dann braucht es Menschen, nichts fordern, nichts forcieren, nichts erreichen wollen, die selbst verbunden sind mit tiefem inneren Frieden. Wenn der persische Dichter Rumi von jenem Ort „jenseits von richtig und falsch“ spricht, an dem wir uns treffen, dann brauchen wir Menschen, die diesen Ort und den Weg dorthin kennen und unerschütterlich mit diesem Ort verbunden sind.

Frieden entspringt dem Geist der Verbundenheit

Soweit das Ideal. Ist es Wunschdenken? Ist es Naivität? Immer und überall wurde und wird den Friedliebenden doch Naivität vorgeworfen! Und ja, ich muss nur den Blick auf unser vergleichsweise kleines Familienuniversum werfen, um zu erkennen, wie schnell der Frieden verloren geht.

Gerade in Jahren der Corona-Pandemie, zwischen Homeoffice, online-Schule und online-Studium ging es hier dauernd um Territorien, Grenzen, wer hat welches Recht, wo verläuft die „rote Line“ – und wer eigentlich geht mit dem Hund…? Nie zuvor sind unsere verschiedenen Bedürfnisse zum Beispiel nach „Zeit für sich alleine“ und „Zeit mit anderen“ krasser zutage getreten als in diesen Monaten.

Und an manchen Tagen lagen die Nerven blank und es gab unter uns keinen mehr, der erfüllt war von innerem Frieden. Auch unter Freunden sind Konflikte aufgebrochen und manche Wunde ist noch nicht geheilt.

Was uns aber gerettet hat, ist letztlich der tiefe Wunsch, verbunden zu bleiben. Unterschiede anzuerkennen und zugleich zu wünschen, dass es dem anderen wohl ergeht, waren die Schlüssel zu dem Weg, immer wieder zum Ort des Friedens und der Verbundenheit zurückzukehren.

Frieden, auch das ist mir in diesen Tagen bewusst geworden, heißt eben nicht, dass jeder das kriegt, was er haben will – und dann ist gefälligst mal Friede! Frieden entsteht aus dem Bewusstsein der Verbundenheit aller Menschen, Tiere und Pflanzen als einem lebendigen, höchst beweglichen, aber auch verletzlichen Gewebe.

Frieden entsteht aus dem Wunsch, dieses Gewebe zu schützen und einen Betrag zu seiner Heilung zu leisten. In diesem Sinn sollten wir unseren Beitrag, den wir im Alltag durch friedliches Sein und friedvolles Tun leisten, nicht gering einschätzen – was leicht geschieht angesichts weltbewegender Ereignisse und der Macht, die Bilder vom Kriegsgeschehen über uns haben.

Sich dem Frieden zuwenden, innen und außen

Ich halte es jetzt für eine wichtige Aufgabe, auf einer Wiese zu sitzen und den Hummeln beim ersten Flug in den Frühling zuzuschauen. Frieden in mir wirkt sich auf vielen Ebenen und auf viele andere aus.

Ebenso wichtig ist mir die Zeit auf meinem Meditationskissen, in der ich mich darin übe, die aufsteigenden Gefühle von Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit angesichts der Nachrichten zu halten oder mich an Momente des Friedens in meinem Leben zu erinnern.

Auch ist es gut, wenn wir einander Geschichten und Gedichte vom Frieden zu erzählen. Es dient dem Frieden, in einer stressigen Situation zunächst ein paar Atemzüge zu nehmen, bevor wir einem Kind dabei helfen, die Jacke anzuziehen oder einem alten Menschen dabei helfen, eine Jacke auszuziehen. Es dient dem Frieden, umsichtig mit den eigenen Ressourcen umzugehen und die nächste Aufgabe aus einer friedlichen Haltung heraus zu erledigen – oder erstmal eine Pause zu machen.

Frieden, daran erinnern wir uns jetzt, ist kein statischer Zustand. Frieden ist eine Qualität. Wir sind mit dieser Qualität verbunden, sobald wir uns ihr zuwenden. Wir können sie finden, im Außen und im Inneren.

Unsere Arbeit besteht darin, angesichts der eigenen Unvollkommenheit und der Unvollkommenheit der Welt, innerlich Frieden zu schließen. Das ist das Gegenteil davon, Konflikte zu ignorieren, die Augen vor Problemen zu verschließen oder uns in Sicherheit zu wiegen. Es ist diese innere Arbeit, die getan werden muss und die uns hilft, mit Angst und Trauer umzugehen. In jedem Augenblick liegt die Möglichkeit, neu damit anzufangen.

Foto: privat

Julia Grösch ist Achtsamkeitslehrerin und zertifizierte Trainerin für Mindful2Work (Vorbeugung von Stress und Erschöpfung in Alltag und Beruf). Sie unterrichtet diesen Kurs online für Einzelne und Gruppen. Mehr Artikel und Infos finden Sie auf ihrer Seite Achtsamkeit und Begegnung.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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