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Für ein verpflichtendes Gemeinschaftsjahr

Iakov Filimonov
Iakov Filimonov

Ein Standpunkt von Carsten Petersen

In einer Gesellschaft, die sich immer stärker polarisiert, müssen wir den Zusammenhalt stärken, ist Carsten Petersen überzeugt. Er plädiert für ein verpflichtendes Gemeinschaftsjahr, das Jugendliche nach der Schule absolvieren. Die Erfahrungen könnten dazu beitragen, dass Menschen toleranter und hilfsbereiter werden.

In den westlicher Staaten beobachten wir einen Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Viele Bürgerinnen und Bürger ziehen sich zurück, kommunizieren in Blasen und sind für Informationen und Standpunkte außerhalb ihrer Kreise nicht mehr zugänglich.

In Großbritannien hat die Brexitdebatte das Land gespalten. In den USA geht es zwischen Unterstützern und Gegnern des Präsidenten nur noch um das Behaupten, aber nicht mehr um das Belegen von Tatsachen. In vielen Ländern werden wir Zeuge eines Verfalls der politischen Diskussionskultur.

Auch in Deutschland wurde, vornehmlich durch rechte Parteien und Organisationen, ein neuer Stil in öffentliche Debatten eingebracht, der auf Argumentation verzichtet. Hier macht man sich nicht die Mühe, einen Gegner zu überzeugen, sondern es geht nur noch darum, ihn zu verunglimpfen.

Die Linke vergräbt sich zunehmend in ihren Debatten an Universitäten, Parteien und Meinungsblättern, ohne abweichende Ansichten ernst zu nehmen und zu würdigen. Andersdenkenen wird vielfach nicht mehr mit Argumenten begegnet, sondern mit moralischer Überheblichkeit. Wer eine abweichende Meinung vorträgt, wird schnell als Rassist, Sexist, Faschist beschimpft.

Was fehlt, ist ein allgemeiner Konsens, abweichenden Meinungen zuzuhören, sie ernst zu nehmen und sie mit Gegenargumenten zu würdigen. Das Fehlen eines Konsenses ist nicht nur in der politischen Sphäre zu beobachten, sondern in allen Bereichen moderner Gesellschaften. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat dies in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ ausführlich gezeigt.

Gemeinschaftliche Aufgaben stärken den Zusammenhalt

Die Gründe für den Zerfall moderner Gesellschaften in Partikularinteressen sind so vielfältig, dass man am Ende etwas ratlos aufblickt und denkt, insgesamt sei es wohl dem „Zeitgeist“ zuzuschreiben. Versuchen wir uns also an den Gegenmitteln:

Ein Mittel gegen den Zerfall einer Gesellschaft sind gemeinschaftliche Aufgaben. Die Geschichte hat gelehrt, welche ungeheuren Kräfte eine Gesellschaft entwickeln kann, wenn es um eine gemeinschaftliche Aufgabe geht, sei es Landesverteidigung, Katastrophenschutz, Großfeuer oder Seuchen.

Die Landesverteidigung ist heute allerdings keine Aufgabe mehr, die von der Bevölkerung ernst genommen wird. Wir fühlen uns sicher und das zu recht. Denn man hat in vielen Staaten der Erde verstanden, dass Sicherheit weniger mit Raketen als mit Diplomatie zu tun hat. Nicht zu Unrecht haben die UNO 2001 und die EU 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Deshalb geht die Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht, wiewohl gut gemeint, an der Sache vorbei.

Wenngleich die Landesverteidigung als gemeinschaftliche Aufgabe weder aus militärischer noch aus sozialpädagogischer Sicht taugt, so hat dennoch der Aufruf, ein gemeinsames Werk anzugehen, einen hohen Wert. Dieses Werk muss aber da angesiedelt sein, wo heute die größten Bedrohungen liegen: im Klimawandel und in der sozialen Ungleichheit.

Eine einjährige Dienstzeit für alle Männer und Frauen nach der ersten Ausbildungszeit (Schule oder Lehre) in diesen Bereichen würde eine gewaltige positive Entwicklung anstoßen. Und dies nicht nur wegen der Arbeitskraft von ca. einer Million junger Menschen, sondern vor allem wegen der gemeinsamen Erfahrung, die schon nach wenigen Jahren viele Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft teilen. Zudem würde jeder in Deutschland lebende Mensch alsbald etwas über Natur- und Umweltschutz und soziale Benachteiligungen aus erster Hand wissen und dieses Wissen auch weitergeben.

„Es ist gerecht, dass die Gesellschaft etwas von ihren Bürgern zurückfordert“

Natürlich wird es Gegenstimmen geben: Die einen werden sagen, dass es ein verpflichtendes Gemeinschaftsjahr einen unzulässigen Eingriff in ihren Lebensplan darstellt. Es ist ein Eingriff, unzulässig ist er jedoch nicht. Es ist gerecht, dass die Gesellschaft etwas von ihren Bürgern zurückfordert, nachdem sie viele Jahre die Kosten für Kindergarten und Ausbildung getragen hat. Diese Rückforderung besteht nicht in Geld oder Steuern, sondern in Lebenszeit.

Das ist wichtig, damit die Mitglieder der Gemeinschaft erleben, dass diese nicht nur in einem abstrakten Tauschhandel, also Dienstleistungen der öffentlichen Hand gegen Bezahlung durch Steuern, besteht, sondern jedes einzelne Leben einen Beitrag zum Gelingen der gemeinschaftlichen Ziele beitragen kann und soll.

Denn im Leben eines jeden Kindes und Jugendlichen ist es nicht das Geld des Staates gewesen, das sie glücklich gemacht und gebildet hat, sondern (wenn es gut gegangen ist) die menschliche Beziehung und die Begegnungen, die Lehrerinnen und Erzieher ihren Zöglingen geschenkt haben.

Es wird eingewendet werden, das Gemeinschaftsjahr würde dazu führen, dass die Jugendlichen dem Arbeitsmarkt mit Verzögerung zur Verfügung stehen. Vielleicht ist das sogar besser. Denn es gibt viel zu viele Studienabbrecher, die gewaltige Kosten verursachen. Ihr Anteil würde durch den späteren Studienbeginn vermutlich geringer. So gesehen, kann es ein Orientierungsjahr sein, in dem junge Menschen ins Leben finden.

Ich habe damals Zivildienst geleitstet und wurde in diesen 18 Monaten gehörig vom Kopf auf die Füße gestellt. Auch für die Jugendlichen, die ihre Ausbildung schon hinter sich haben, ist es nützlich, Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu erkunden, die nicht zum Kreis ihrer Ausbildung und späteren Arbeitssituation gehören.

Entlastung in Schlüsselbereichen der Gesellschaft

Ein Gemeinschaftsdienst hätte viele weitere Vorteile. Dank des medizinischen Fortschritts leben wir immer länger. Deshalb ist nicht einzusehen, warum wir uns in der Jugend nicht erst einmal umschauen, bevor wir in die Arbeits- und Konsummaschinerie kommen. Die hat uns noch lange genug.

Es wird eingewendet werden, das Gemeinschaftsjahr würde Arbeitsplätze vernichten, da eine Armee von Billigarbeitern geschaffen werde. Diese Gefahr beseht aber nicht. Denn durch das Gemeinschaftsjahr sollen die Bereiche Naturschutz, Pflege, Schule, Sport, Gesundheit usw. unterstützt und aufgewertet werden.

So kann ein junger Menschen eine Krankenschwester, einen Lehrer, einen Förster nicht ersetzen, ihm aber assistieren, so dass er seinen Job besser machen kann als vorher. In allen diesen Bereichen wird über zu wenig Personal geklagt. Viele werden krank, weil sie ihre Arbeit nicht mehr schaffen. Altenpfleger haben einfach keine Zeit, mit den ihnen Anvertrauten ein bisschen zu sprechen, Lehrer können nicht den Unterricht machen, den sie wollen, weil sie zu viele Schüler haben. Unsere Lebensmittel müssen industriell und mit viel Chemie hergestellt werden, weil niemand den Bauern zur Hand geht. Durch ein Gemeinschaftsjahr würde niemand entlassen, aber viele könnten entlastet werden.

Vor allem aber wird dieses Jahr wird zur Integration der gesellschaftlichen Gruppen beitragen. Wer in jungen Jahren Arbeitserfahrungen mit Alten und Jungen, Gesunden und Kranken, Reichen und Armen, Ausländern und Deutschen, Städtern und Landbevölkerung gemacht hat, wird wahrscheinlich toleranter und einfühlsamer, hilfsbereiter und solidarischer werden.

Wer gelernt hat, aus seiner Blase heraus zu schwimmen, wird weniger Vorurteile haben und das Leben der anderen mit größerer Offenheit sehen. Waren die Kirschen aus Nachbars Garten nicht schon immer die Besseren?

Carsten Petersen

Carsten Petersen, geb. 1954, studierte Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. Er ist Lehrer, Erzieher, Vater und Imker. Lebt mit seiner Familie in Uelzen.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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