von Arun Manilal Gandhi
Der Gandhi-Enkel Arun Gandhi trägt das Erbe seines berühmten Großvaters weiter. Der 84-Jährige spricht über die Praxis der Gewaltlosigkeit und wie diese in der persönlichen Transformation wurzelt. Es gehe darum, Gewalt in jeglicher Form zu verwandeln und die menschlichen Potenziale zu entfalten. Als Beispiel wählt er eine Initiative für die Weber in Mumbai.
Arun Gandhi hat sich bereit erklärt, Fragen zu den Themen seines Artikels zu beantworten. Lassen Sie sich diese Möglichkeit nicht entgehen! Mailen Sie Ihre Fragen (in Englisch oder Deutsch) an info@ethik-heute.org Die Antworten sollen im Mai veröffentlicht werden.
Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit gründet nicht auf Konfliktbewältigung, sondern persönlicher Transformation. Wenn wir unsere Gewohnheiten ändern und Beziehungen anders gestalten – nämlich weg vom Eigennutz – wird dies zu einem Rückgang von Konflikten in der menschlichen Gesellschaft führen.
Jahrhundertelang hat die menschliche Gesellschaft eine Kultur der Gewalt geschaffen, um Reichtum und Besitz zu schützen und Mitmenschen zu kontrollieren. Diese Kultur der Gewalt basiert auf Gier, Egoismus, Selbstbezogenheit und einer Gesellschaft ohne Werte. All das erschwert die Ausübung von Gewaltlosigkeit, wenn es diese nicht sogar unmöglich macht.
Es mag uns als Einzelnen oder gemeinsam als Nationen gelingen, bestimmte Konflikte friedlich zu lösen, aber normalerweise ist das die Ausnahme und nicht die Regel. Vergleichen kann man dies mit einem armen, hungrigen Mensch, der im Müll etwas Essbares sucht und jubelt, wenn er tatsächlich ein genießbares Stück Brot findet. Man kann in dem Fall aber nicht behaupten, dass er jetzt weiß, wie er sich ernähren könnte.
Als Gandhi seine Kampagne gegen die Briten und für die Unabhängigkeit Indiens führte, hielt er seine Gefährten im Ashram dazu an, seine Philosophie im Detail zu verstehen und sie den ganz normalen Menschen in Indien zu vermitteln.
Diese Philosophie durchlief schon zu seinen Lebzeiten viele Metamorphosen. Als er zum ersten Mal Gewaltlosigkeit in Südafrika einsetzte, nannte er es „zivilen Ungehorsam“, wahrscheinlich in Anlehnung an Henry David Thoreau. Nach einiger Zeit erkannte er, dass das Verlangen nach Gerechtigkeit keinesfalls „ungehorsam” ist. Er lieh sich dann den Begriff „passiver Widerstand” von Leo Tolstoi, kam aber wiederum zu dem Schluss, dass es im Kampf um Gerechtigkeit nichts Passives gibt. Je mehr er Gewaltlosigkeit praktizierte, desto mehr war Gandhi davon überzeugt, dass Gewaltlosigkeit eine aktive Philosophie ist, die viele persönliche Opfer verlangt.
Dem Pazifismus stand er eher skeptisch gegenüber, weil dieser eng mit passivem Verhalten gleichgesetzt wurde. Er sah auch, dass Pazifist zu sein oft ein Vorwand war, um nicht handeln zu müssen. Gandhi würde sagen, wenn eine Wahl zwischen Gewalt und Nichtstun zu treffen sei, die Gewalt zu bevorzugen sei.
Der Unterschied zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit liegt in der Einstellung. Gandhi war überzeugt, dass die Menschen ihre Denkweise ändern müssten, nämlich weg von negativem und hin zu positivem Denken. In einem gewaltfreien Konflikt bekämpfen wir nicht einen Feind, sagte er, sondern wir verwandeln einen Freund.
Wenn man jemanden zum Feind erklärt, würde man diese Person entmenschlichen, und leichterhand könnte man „das Böse“ zerstören. Sähe man einen Gegner aber als Freund, würden wir sofort die Person vom Problem trennen. Das mache es einfacher, das Problem anstelle der Person anzugehen.
„Ich bin bereit zu sterben, aber es gibt keine Sache, für die ich bereit bin zu töten“, sagte Gandhi. Aber in der modernen Gesellschaft und ihrer alles durchdringenden Kultur der Gewalt wurde diese Weisheit auf den Kopf gestellt. Die Meinung heute ist: „Ich bin bereit zu töten, aber es gibt keine Sache, für die ich bereit bin Opfer zu bringen.” Genau diese Denkweise zerstört unsere Menschlichkeit.
Armut ist die schlimmste Form der Gewalt
Unsere Gesetze basieren auf der Annahme, dass eine Person so lange unschuldig ist, bis ihre Schuld bewiesen ist. In der Praxis allerdings betrachten wir jede Person als schuldig, bis sie selbst ihre Unschuld bewiesen hat. In einer Kultur der Gewalt „bestrafen“ wir Menschen also für ihr Fehlverhalten, anstatt uns auf die Probleme zu konzentrieren, die zu diesem Verhalten führten.
Wenn jemand aus Hunger einen Laib Brot stielt, um sich und seine Kinder zu ernähren, wird er zum Kriminellen und entsprechend bestraft. Die Gesellschaft befasst sich kaum bzw. überhaupt nicht mit der Frage, warum Menschen hungrig sind oder warum es Armut und Elend mitten im Wohlstand gibt.
Die moderne materialistische Gesellschaft basiert auf dem Gesetz des Dschungels, nämlich: „Die Stärksten überleben“. Wer in einer gnadenlosen Welt nicht überleben kann, verdient es nicht zu leben. Wir bauen Gefängnisse, die Festungen gleichen, damit die Insassen nicht entkommen können und sperren Menschen ein, um sie zu bestrafen. Dies ist mit enormen Kosten für die Gesellschaft verbunden. Die Kultur der Gewalt lehrt uns, keine Zeit mit der Lösung von Problemen zu verschwenden, nach dem Motto: Fang den bösen Täter einfach und sperre ihn ein.
Armut ist die schlimmste Form der Gewalt, sagte Gandhi. Mit der Kultur der Gewalt haben wir aber, anstatt Armut zu beseitigen und den Schwächsten unter uns ein angemessenes Auskommen zu sichern, Armut zu einer Art Sklaverei des 21. Jahrhunderts gemacht. Die Gesellschaft braucht heute billige Arbeitskräfte, die sie ausbeuten kann, um materiell zu wachsen, also warum soll es nicht auch Menschen geben, die ein Dasein in Armut und Unwissenheit fristen, wenn damit ein unerschöpfliches Reservoir an ausbeutbaren Arbeitskräften geschaffen wird!
Gandhi würde sagen, dass eine Zivilisation nicht an ihrer Stärke und ihrem Wohlstand gemessen wird. Zivilisation besteht darin, dass Harmonie unter den unterschiedlichsten Menschen herrscht und dass wir Menschen nicht danach beurteilen, wieviel sie konsumieren, sondern wieviel Mitgefühl sie zeigen.
Unserer Talente in den Dienst von anderen stellen
Treuhandschaft und konstruktives Handeln sind zwei weitere Aspekte in Ghandis Philosophie der Gewaltlosigkeit. Gandhi glaubte, dass diejenigen unter uns, die ein Talent mitbekommen oder erworben haben, dies nicht als ihren exklusiven Besitz ansehen sollten, denn eigentlich sind wir nur Treuhänder dieser Talente.
Da wir in dem Glauben erzogen werden, dass dieses Talent uns gehört, benutzen wir es ausschließlich dazu, unsere eigenen Ziele im Leben zu erreichen. Wenn wir aber akzeptieren, dass wir nur Treuhänder sind, werden wir es nicht nur für unsere Zwecke einsetzen, sondern gerne auch dazu, anderen, weniger Begünstigten, zu helfen, also zu geben und zu teilen. Allerdings sollte die Motivation für dieses Geben und Teilen nicht Mitleid, sondern Mitgefühl sein. Worin besteht der Unterschied?
Wenn wir einem hungrigen Mensch etwas Geld zum Kauf von Nahrung gebe
n, handeln wir aus Mitleid. Wir geben das Geld und meinen, das sei die gute Tat des Tages. Es ist uns egal, was der Arme mit dem Geld macht, ob er Nahrung kauft, Zigaretten oder Alkohol. Es geht uns nichts an. Solches Handeln, das auf Mitleid gründet, macht arme Menschen für immer von Wohltätigkeit abhängig.
Wenn man aber aus Mitgefühl handelt, würde man versuchen herauszufinden, warum er seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann. Hat er irgendein Talent, das eingesetzt werden kann, um ein festes Einkommen zu erzielen? Man würde dann auch eigene Zeit und eigenes Talent aufwenden, um ein Förderprogramm zu entwickeln, das die Selbstachtung und das Selbstvertrauen dieser armen Person wiederherstellt, die durch ein Leben in Armut zerstört werden. Das erfordert natürlich ziemliches Engagement und Mitgefühl – rare Güter in der modernen Gesellschaft. Wenn schon Eltern es immer schwieriger finden, Zeit für ihre eigenen Kinder aufzubringen, wie sollen sie noch Zeit für Fremde finden?
Von den Armen lernen
Jedes konstruktive Handeln erfordert Bescheidenheit und den Willen, den Armen zuzuhören und von ihnen zu lernen. Das ist wichtig, denn wir glauben, dass wir gebildet und klug sind und wissen, worin die Probleme der Armen bestehen. In Wirklichkeit wissen wir es nicht, denn wir haben nicht ihr Leben gelebt und nicht ihren Hunger oder die Unsicherheit der Mittellosigkeit erlebt. Und wir kennen ihre Talente und Fähigkeiten nicht .
Viele Wohltätigkeitsorganisationen erschaffen deshalb letztendlich nur etwas, das so lange überlebt wie diese Organisationen existieren, um alles am Laufen zu halten. Würde man es den Menschen selbst überlassen, würde alles zusammenbrechen. 1962 beschlossen drei befreundete Journalisten und ich, diese Theorie der Treuhandschaft und des konstruktiven Handelns zu testen. Wir arbeiteten in Bombay (jetzt Mumbai), wo Millionen Menschen obdachlos sind und auf der Straße leben.
Diese Obdachlosen stellen eine große, oft zu große Belastung für die öffentlichen Einrichtungen vor Ort dar. Reguläre Anwohner fühlen sich stark beeinträchtigt, es gibt viele Proteste und Forderungen, die Regierung solle Obdachlose aus ihren Vierteln verbannen. Meistens verfügt die Regierung gar nicht über die nötigen Mittel, um das Problem zu lösen. Sollten die Mittel doch ausreichen, ist der Ansatz oft viel zu bürokratisch, um in irgendeiner Weise für die Obdachlosen hilfreich zu sein.
Wir gründeten das Zentrum für Soziale Einheit (Centre for Social Unity) und versuchten so, die Armen zu erreichen. Über Monate mussten wir regelmäßig zu ihnen gehen, damit sie uns akzeptierten. Im Laufe der Jahre hatten schon so viele Leuten Versprechungen gemacht, dass die Armen verständlicherweise misstrauisch waren, als irgendwelche Fremden mit dem Versprechen ankamen, für sie Gutes zu tun. Wir brauchten fast ein Jahr, bis einige von ihnen uns akzeptierten und uns vertrauten.
Als sie soweit waren, verbrachten wir viele weitere Monate nur damit, mit ihnen zu sprechen und ihr Leben zu verstehen. Wir wollten erfahren, was sie in der Vergangenheit gemacht hatten und was sie jetzt taten. Aufgrund dieses Dialogs konnten wir Profile von fast 800 Personen erstellen, mit denen wir Kontakt hatten.
Die Weber in Indien stärken
Eine Mehrheit dieser Menschen hatte früher kleine Handwebstühle besessen. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit der Tuchherstellung, bis sie durch die großen mechanischen Tuchfabriken vom Markt verdrängt wurden. Da sie diesen Beruf über Generationen hinweg ausgeübt hatten, besaßen sie keine Schulbildung. Nach dem Verlust ihrer Handwebstühle verdienten sie als Gelegenheitsarbeiter in den Straßen von Mumbai einige wenige Rupien am Tag, die sie mit ihren Familien in den Dörfern teilten. Es war ein elendes und hartes Leben. Wir beschlossen, ihr vorhandenes Wissen über die Tuchherstellung zu nutzen.
Es wäre ein Leichtes für uns gewesen, Zuwendungen durch eine Stiftung zu erhalten, damit Textilmaschinen zu kaufen und so für diese Menschen eine Fabrik zu gründen. Wir erkannten aber, dass sie dies nur in die Abhängigkeit bringen würde. Sie würden jedesmal, wenn sie etwas brauchten, zu uns kommen, was absolut kontraproduktiv gewesen wäre. Wir erklärten ihnen, dass wir ihr Wissen über die Tuchherstellung nutzen und eine elektrisch betriebene Textilproduktion errichten wollten, aber sie selbst müssten das dafür nötige Kapital besorgen.
Sie waren natürlich geschockt und fragten, woher sollen wir denn das Geld bekommen? Unsere Antwort: Wenn ihr alle zusammen beschließt, jeden Tag eine halbe Rupie zu sparen, ist das Geld für die Fabrik bald zusammen. Wir rieten ihnen, auf etwas zu verzichten, ohne das sie gut auskommen könnten, wie zum Beispiel Zigaretten, oder einige Überstunden zu machen. Vor allem sollten sie gemeinsam an sich glauben und darauf vertrauen, dass jeder sich ehrenhaft verhalten würde.
1965 nahmen sie die Herausforderung an und schon Anfang 1968 hatten sie einen Betrag im Wert von 12.000 Dollar gesammelt. Wir kauften mit dieser Summe gebrauchte Textilmaschinen und installierten sie in einem kleinen Lagergebäude in Vita (bei Kolhapur in Maharashtra), dem Dorf, aus dem sie kamen.
Alle, die wussten, wie man mit einem Handwebstuhl arbeitet, wurden in das Dorf zurückgeschickt, um die Fabrik rund um die Uhr am Laufen zu halten. So würden alle, die zu dem Projekt beitrugen, vom Einkommen profitieren. Sie brauchten natürlich Schulung in Unternehmensführung, Produktion, Marketing, Finanzverwaltung usw. Wir sorgten dafür und bereiteten sie gleichzeitig darauf vor, den Betrieb schließlich zu übernehmen.
„Wir müssen das vorleben, was wir andere lehren”
Nach ungefähr zehn Jahren war das Unternehmen so erfolgreich geworden, dass sie sechs weitere Fabriken eröffnen konnten. Das Prinzip des beständigen, geringfügigen Sparens, das wir angestoßen hatten, behielten sie bei. 1978 konnten sie dann ihre erste Genossenschaftsbank eröffnen, die Kranti Weaver’s Cooperative Bank in Mumbai mit drei Zweigstellen und einem Gesamtkapital im Wert von fast zwei Million Dollar. Ihr Leben hatte sich völlig geändert. Sie konnten jetzt in Würde mit ihren Familien zusammen in ihrem Dorf leben. Ihre Kinder erhielten eine Schulbildung und Ausbildung und kamen später als Lehrer, Ärzte usw. zurück. Das ganze Dorf profitierte also davon.
Für uns bedeutete das Projekt Verzicht auf unseren Urlaub. Wir verbrachten einen Großteil unserer Freizeit damit, diesen Menschen zu helfen und Verständnisbrücken zu bauen. Wir bezogen auch unsere Familien mit ein. So konnten unsere Frauen deren Frauen unterstützen. Unsere Kinder lernten nicht nur, mit den Kindern der Armen zu spielen und sie zu respektieren, sondern halfen auch dabei, ihnen eine elementare Bildung zu vermitteln.
„Wir müssen das vorleben, was wir andere lehren”, lautete Gandhis universeller Rat. Wir versuchten, dies umzusetzen und konnten, so meine ich, auch in der nächsten Generation Liebe und Mitgefühl wecken.
Überall auf der Welt gibt es viele solcher Projekte, aber da wir uns so sehr auf alles Materielle konzentrieren, haben wir sie ignoriert oder übersehen. Vor zwanzig Jahre initiierte ich eine Gandhi- Vermächtnistour, um den Menschen aus dem Westen zu vermitteln, dass sie solche konstruktiven Selbsthilfeprogramme nicht nur als Teil ihrer Ausbildung sehen sollten, sondern auch als Inspiration dafür, dass eine Person das Leben von Millionen Menschen verändern kann. Und darum geht es, wenn wir eine Kultur der Gewaltlosigkeit schaffen wollen. </sp an>
Arun Gandhi, aus dem Englischen übersetzt von Bettina Balbach
Arun Gandhi wurde 1934 in Südafrika geboren. Als Kind lebte eine Zeit lang in dem Ashram seines Großvaters Mahatma Gandhi in Zentralindien. Heute hält er in der ganzen Welt Vorträge über sein wichtigstes Anliegen: eine Kultur der Gewaltlosigkeit zu schaffen. 2017 erschienen sein Buch „Wut ist ein Geschenk. Das Vermächtnis meines Großvaters Mahatma Gandhi.“ Website von Arun Gandhi
Buchbesprechung Arun Gandhi. Wut ist ein Geschenk
Veranstaltungstipp: Zum Auftakt dere Vortragsreihe “Pazifismus” spricht der Philosoph Professor Wilfried Hinsch am 19. April um 18.15 Uhr über “Die Moral des Krieges”. Mehr