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Ganzheitlich denken

xtock/ shutterstock.com
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Ein Appell von Efraim Goldschmidt

Den tieferen Sinn im Leben zu erkennen, darum ging es Efraim Goldschmidt ein Leben lang. Als Jude 1921 in Berlin geboren, überlebte er Auschwitz. Er will ein ganzheitliches Denken fördern. Wenn wir die Einheit der Menschen mit allem, was existiert, sehen, können wir eine neue Gesellschaft schaffen. Goldschmidt empfiehlt eine Weltanschauung der Vernunft, die er Einheitsbewusstsein nennt.

Die meisten Menschen sind wahrscheinlich nicht fähig, ohne Glauben an eine höhere Macht, an Gott zu leben. Religionen wie das Christentum, der Islam, Buddhismus, Hinduismus und das Judentum, vor tausenden Jahren gegründet, sind nun veraltet. Sie haben nicht mehr viel Sinn für den modernen Menschen. Die Menschheit benötigt eine moderne Weltanschauung, die fähig ist, klare Antworten auf die Fragen und Probleme des Menschen im 21. Jahrhundert zu geben.

Wir brauchen ein holistisches Weltbild, nach dem der Mensch allein verantwortlich ist für seine Taten. Kein Gott befiehlt ihm, wie er sich zu verhalten hat, oder spricht Verbote aus. In modernen Staaten bestimmt die menschliche Gesellschaft die ethischen Regeln, Gesetze und Verhaltensweisen.

Die neue Weltanschauung sieht den Menschen als ein freies Geschöpf, das nicht gebunden ist durch erlernte Bedingtheiten, emotionale Verwundungen und traumatische Erinnerungen. Danach ist der Mensch ein intelligentes, vernunftbegabtes Wesen, das frei sein kann von Egozentrismus und wahllosen Impulsen.

So ist es ihm möglich, die tiefere Bedeutung des Lebens zu verstehen. Das Universum ist ewig und sein Ursprung liegt im Universal- oder Einheitsbewusstsein; man kann es das Geistige oder Göttliche nennen, der Name ist nicht bedeutsam. Die geistige Energie des Universalbewusstseins durchdringt auch die Materie, jedes Atom des Lebenden.

Es gibt kein Ich, das denkt. Das Bewusstsein wirkt in meinem Gehirn. Das Gehirn ist die Empfangsstation des Bewusstseins. Das Gehirn nimmt auf, verarbeitet und hat ein Gedächtnis. Es gibt keine separate Persönlichkeit mit Gedächtnis. Ist Denken ein materieller Prozess? Das Denken benützt die Techniken des Gehirns, um das Bewusstsein aufzunehmen und zu bearbeiten.

Da alles Bewusstsein ist, ist der Kosmos eine vollendete Einheit. Atome und Teilchen, riesige Galaxien und winzige Elektronen sind nur Blasen im dauernden Strom des Lebens. Das Bewusstsein ist ewig, aber jedes Leben ist endlich, denn alles, was lebt, wird geboren, entwickelt sich, sorgt für Kontinuität, verwelkt und hört auf zu existieren. Endlichkeit ist nicht Tod. Wer versteht, was Bewusstsein ist, erkennt auch, dass der Tod für uns der Verlustschmerz um den geliebten Menschen ist, der uns verlassen hat.

Liebe zu allen Geschöpfen

Alles außer dem Bewusstsein ist zeitlich begrenzt. Warum leiden die Menschen, warum gibt es so viel Schlechtigkeit, warum soviel Hass, Neid und Eifersucht? Weil Menschen annehmen, dass jeder eine separate Persönlichkeit hat. Sie verstehen nicht, dass das ganze Ich ein Trugbild ist. Was in ihnen wirkt, ist das Bewusstsein, wenngleich ihr gefühlsbetontes Denken hauptsächlich Erinnerungen und Bedingtheiten, seelische Verletzungen und Reaktionen enthält.

Meine Existenz, körperlich und seelisch, ist nur Bewusstsein. Im Moment, in dem ich erkenne, dass ich ein Aspekt des Bewusstseins bin, eines holistischen Weltalls, dass ich von nichts, das existiert, getrennt bin, bin ich ein freier Mensch.

Und was ist Liebe? Liebe ist das Wichtigste in der lebendigen Welt: die Liebe zu allen Geschöpfen und zur Natur. Liebe ist kein blinder Impuls, sondern ein starkes Gefühl für den Nächsten.

Wir können als Menschheit nicht überleben ohne die Einsicht, dass der Mensch eins ist mit allem, was existiert. Jede Spaltung zwischen Menschen aufgrund von Religion, Nationalismus, Ideologien, Rassenhass oder aus anderen Gründen kann nur geschehen, weil wir die Einheit nicht verstehen.

Daher müssen wir auch unsere Kinder so erziehen, dass sie Einsicht erhalten in die Einheit der Welt, die Einheit der Menschheit und die Einheit von Mensch und Natur; daraus entstehen dann Liebe zu allen Geschöpfen und Mitgefühl mit jedem leidenden Wesen. Jede Spaltung vermehrt das Leiden auf der Welt, durch Konflikte, Streitereien und Kriege, durch Gewalttätigkeit und Verbrechen.

Alles, was im Weltall besteht, hat seine Zeit. Alles ist in Bewegung und ändert sich immerfort. Nur das universale Bewusstsein ist ewig. Man kann es auch Gott nennen. Ich nehme an, dass viele Menschen das Bedürfnis nach einer absoluten höheren Kraft haben, die sie Gott nennen, aber ich nenne diesen Gott einfach Vernunft, die für mich die tiefere Bedeutung des Lebens symbolisiert.

Ich nehme an, dass wir nicht allein im Weltall sind. Ich bin davon überzeugt, dass es im Weltall Milliarden Planeten gibt, auf denen Lebewesen und Pflanzen existieren. Möglicherweise gibt es auch Planeten, auf denen vernünftige Wesen mit einem holistischen Weltbild leben, vielleicht auch solche, die den Höhepunkt der möglichen Vernunft schon erreicht haben.

Wir brauchen einen kulturellen Wandel

Die Menschheit befindet sich heute an einem gefährlichen Kipppunkt. Ihre Existenz steht auf dem Spiel, wenn wir nicht in den nächsten Jahrzehnten einen tiefgreifenden mentalen Wandel hin zu einem ganzheitlichen Bewusstsein einleiten. Wir müssen ein holistisches Zeitalter einläuten.

Die ökologische Situation auf der Erde ist dramatisch. Sie kann zu einem Zusammenbruch des Systems führen, mindestens aber zu schweren Konflikten zwischen Staaten und Völkern, etwa aufgrund von Wasser- und Nahrungsmangel, schwindender Ressourcen und Naturkatastrophen. Auch dass viele Länder über Atomwaffen und Giftgas verfügen, ist brandgefährlich.

Die rasante Entwicklung der digitalen Technologien wird unser Wirtschaftsleben, die Arbeit, den Alltag und die Freizeitgestaltung erheblich verändern. Wenn mehr Roboter menschliche Arbeit ersetzen, so werden wir in Zukunft weniger arbeiten, vielleicht nur noch 20 Stunden in der Woche.

Das bedeutet: Wir brauchen auch einen kulturellen Wandel. Wir müssen unser Lebenstempo verlangsamen, denn die meisten von uns sind gar nicht fähig, in so einem Tumult zu leben.

Da die Menschen in Zukunft mehr Freizeit haben werden, müssen wir uns überlegen, wie wir unsere Zeit bestmöglich nutzen. Wir brauchen auch Muße, um unser Denken zu verändern. Eigentlich ist unser Zeitalter schon holistisch, alles hängt irgendwie zusammen. Das gilt es zu erkennen, so dass Liebe zum Mitmenschen und Zusammenarbeit zwischen Völkern und Menschen möglich wird. Es ist die beste Art, in dieser Welt zu leben.

Ich bin überzeugt, dass der Zustand in der modernen Welt, mit Konkurrenzkämpfen und den ständigen Anreizen, die Kauflust zu steigern, sein Ende finden muss. Menschen werden nicht glücklicher, wenn sie mehr kaufen und verschwenden, wenn sie ständig neue Autos, Computer und Smartphones anschaffen müssen, damit die Wirtschaft in Gang bleibt. Da stimmt etwas nicht. Ich schlage vor, allen Arbeitern und Angestellten einer Firma einen gewissen Teil des Gewinns zukommen zu lassen. Wer keine Arbeit hat, sollte ein Einkommen vom Staat erhalten.

In einer holistischen Welt, wie ich sie mir vorstelle, werden viele junge Menschen in Gemeinschaften leben. Ich denke an Gruppen, die auf dem Land oder in den Stadtvororten ein Sück Land erwerben, ihre einfachen Häuschen selbst bauen, Obst und Gemüse anbauen und natürlich auch Vegetarier sind.

Einen Teil ihres Einkommens überweisen sie der Gemeinschaft, damit sich der Lebensstandard aller Mitglieder angleicht. Denn wir wollen ein Leben in höherem Bewusstsein leben und unsere holistische Weltanschauung in die Tat umsetzen.

Aufbruch in eine neue Weltordnung

Wenn wir die Einheit allen Lebens durchdrungen haben, geht es darum, dieses holistische Denken auch politisch in die Tat umzusetzen. Die digitale Technologie, die sich in den nächsten Jahrzehnten rasant weiterentwickeln wird, könnte der Schlüssel für den Aufbruch in eine neue Weltordnung sein. Sie könnte helfen, eine Weltregierung zu schaffen, eine Weltunion von Staaten.

Die neuen Technologien vermindern die Distanzen auf der Erde auf ein Minimum. Wir sollten sie nutzen, um Leiden zu beenden: alle Tendenzen zu starrem Nationalismus, Rassismus, Fremdenhass, radikalen Religionen, die Terror und Gewalt fördern, Diskriminierung von Frauen und die Manipulation der Politik durch das Kapital.

Eine Weltregierung sollte auch die Probleme der armen Länder lösen. Sie muss daran gehen, die armen Staaten zu entwickeln, ihre Landwirtschaft zu modernisieren, wichtige Heimindustrien aufzubauen und die ganzheitliche Erziehung der Jugend zu unterstützen.

Nur so kann es gelingen, die Demokratie zu bewahren, Korruption und Populismus entgegenzuwirken, eine gerechte Welt zu schaffen, in der die Wirtschaft dem Menschen dient und für Wohlstand und Wohlergehen zu sorgen. Gute Beziehungen sind nicht nur zwischen Menschen Ausdruck eines ganzheitlichen Weltbilds, sondern auch zwischen Völkern und Regierungen.

Efraim Goldschmidt

Foto: privat

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Horst Efraim Goldschmidt wurde 1921 in eine jüdische Familie in Berlin geboren. Als junger Mann überlebte er Auschwitz und gründete nach dem Krieg in Israel einen Kibbuz. Hier setzte er seine Vision in die Tat um: Es gab kein Privateigentum, und das tägliche Leben war kollektiv organisiert. Seinen Lebensabend verbrachte er in der Nähe von Tel Aviv, wo er am 13. Februar 2018 verstarb.

 

 

 

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Ein Wunderbarer Gedanke!
Nur ist Der mit dieser Spezies Mensch
ein unerfüllbarer Traum.
Ein Neuanfang ganz von Vorn, wie sollte
Das funktionieren? Zu festgefahren in den
Gewohnheiten alles haben zu wollen.
Über alles bestimmen zu wollen.
Die Leichtigkeit sich von Wehrlosen alles
zu nehmen. Der Standesdünkel, die
damit verbundene Macht und die Angst
der Anderen.
Wie sollte sich Das je Ändern!??

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