Interview mit dem Psychotherapeuten Guido Peltzer über Gefühle der Fremdheit
Manche Deutsche fühlen sich fremd im eigenen Land, Rechtspopulisten haben leichtes Spiel. Der Psychotherapeut Dr. Guido Peltzer spricht im Interview über die Ursachen von Ängsten und regt mehr Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Religionen an, insbesondere mit den Muslimen in Deutschland.
Unter der Überschrift „Fremd im eigenen Land?“ veröffentlichte Prof. Dr. Hartmut Rosa am 20. April 2015 einen Artikel in der FAZ. Aufhänger waren aktuelle soziologische Untersuchungen, wonach sich Deutsche manchmal fremd in ihrem Land fühlen.
Der Aussage „Durch die vielen Muslime fühle ich mich manchmal fremd im eigenen Land“ stimmten danach 17,5 Prozent der Deutschen zu. Hartmut Rosa hinterfragte in seinem Beitrag, dass das Gefühl der Fremdheit wirklich im unmittelbaren Zusammenhang mit den Muslimen stünde und vermutet dafür ganz andere Beweggründe. Redakteurin Birgit Stratmann sprach darüber mit dem Psychotherapeuten Dr. Guido Peltzer.
Frage: Wie sehen Sie den Zusammenhang von Gefühlen der Fremdheit und Fremdenfeindlichkeit?
Peltzer: Es ist ganz offensichtlich, dass diese Gefühle nicht allein mit der Zuwanderung zu tun haben. Das sieht man auch daran, dass die Skepsis gegenüber Muslimen gerade dort besonders groß ist, wo nur wenige Muslime leben. In Städten dagegen, in denen sich die Kulturen vermischen, ist die Akzeptanz deutlich höher.
Menschen leiden in Zeiten der Globalisierung zum einen unter zunehmender Desorientierung. Habermas prägte den Begriff der “Neuen Unübersichtlichkeit”. Ich glaube, es geht in Zeiten der Desorientierung vor allem um Identität und Zugehörigkeit. Es geht darum, sich neu „verorten“ zu müssen.
Hinzu kommen Ängste. Wir haben in den letzten 20 bis 30 Jahren im Überfluss gelebt. Seit einiger Zeit werden die Räume enger. Die Sozialkassen sind leer, die Anforderungen im Beruf steigen stetig. Das setzt Menschen unter Druck, und sie verfallen leicht in regressive Verhaltensweisen, das heißt, sie verhalten sich wie Kinder, die Angst haben.
Wie geht man mit Angst um? Zum Beispiel sucht man seine Identität und besinnt sich auf seine Zugehörigkeit: Familie, Heimat, Religion, Nation – je nachdem, wie sich das Selbstverständnis eines Menschen zeigt. Diese Tendenzen werden jetzt wieder stärker. In Spanien und England gibt es regionale Bewegungen, die sich vom bestehenden Staat abspalten und kleinere Einheiten bilden wollen. Mit der Hinwendung zu kleineren, stabil wirkenden übersichtlichen Einheiten versuchen Menschen, der Unübersichtlichkeit und Angst entgegen zu wirken.
Ein weiterer Mechanismus, der die Angst bannen soll, ist das Kontrollbedürfnis. Die verunsicherte Seele greift auf alte Traditionen und Gewohnheiten zurück: alte Lieder, Brauchtümer, Kleidungsstile. Man versucht, sich in gewohnten Bahnen zu bewegen und das Leben unter Kontrolle zu halten.
Laut Rosa fühlen sich vor allem ältere Menschen fremd. Seiner Meinung nach hat das mit einem gestörten Resonanzprozess in der Demokratie zu tun: Menschen hätten Gefühle der Ohnmacht und fühlten sich nicht gehört.
Peltzer: Im “nicht gehört, nicht gesehen werden” verbirgt sich der Wunsch nach Liebe, das kennt jedes Kind. Kinder wissen, dass sie nur durch die Zuwendung von Erwachsenen überleben können. Die Liebe soll bedingungslos sein. Das ist eine tiefe Sehnsucht des Menschen, die sich auch im Grundgesetz ausdrückt: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Und die gewährte Liebe und Anerkennung soll ohne Bedingungen möglich sein.
Das heißt, wir projizieren Themen aus der Kindheit, Gefühle und Sehnsüchte nach außen, z.B. auf Muslime, die damit eigentlich gar nichts zu tun haben?
Peltzer: Ja, hier laufen regressive psychologische Muster ab. Die Muslime werden als Konkurrenten um die Liebe und Fürsorge der Eltern empfunden, wofür die Politik als Ersatz für die Eltern verantwortlich gemacht wird. Psychologisch betrachtet scheinen mir solche Mechanismen abzulaufen.
UN ist alarmiert über Rassismus in Deutschland
Rechtspopulisten haben leichtes Spiel und nutzen die Schwächen und Ängste aus. Wie können wir dem aus Ihrer Sicht entgegen wirken?
Peltzer: Es ist sehr wichtig, die Gefühl der Menschen von Angst und Fremdheit anzuerkennen. Es reicht nicht, die Zusammenhänge theoretisch zu erklären. Das hilft zwar dem Denken. Aber wir brauchen auch eine Transformation auf der Gefühlsebene, etwa durch die Einbeziehung der Muslime in den Alltag, in die Arbeit, in Feste. Begegnung ist das Schlüsselwort.
Warum verstehen wir uns heute mit den Franzosen so gut? Weil es zum Beispiel Städtepartnerschaften gegeben hat. Kluge Politiker sorgten nach dem Krieg für Kontakte der Bürger untereinander. Mir klingen noch üble Beschimpfungen im Ohr, die mir Leute in Frankreich nach dem Krieg hinterhergerufen haben, wenn ich durch die Straßen ging. Das gibt es heute nicht mehr. Über die Jahre ist ganz natürlich durch Kontakte und Begegnung eine neue Freundschaften entstanden.
So brauchen wir auch mit den Muslimen gemeinsame Erlebnisse und gemeinsames Tun: Christen in die Moscheen einladen und Muslime in die Kirchen, gemeinsam kochen, gemeinsam Feste feiern, beisammen sein. Wenn wir Verschiedenheit in gemeinsamem Handeln erleben können, verlieren die Unterschiede ihre Bedrohlichkeit und die Ängste beruhigen sich.
Wir müssen in der interkulturellen Begegnung damit leben, dass uns manche Riten und Haltungen von anderen fremd sind; umgekehrt gilt das natürlich auch. Wenn es Familienstrukturen gibt, wo der Vater bestimmt, wo es lang geht und die Kinder gehorchen müssen, fühlt sich das für uns befremdlich an, obwohl es hierzulande vor 50 Jahren auch so war. Was ich sagen möchte: Wir können nicht unsere eigenen Haltungen zum Maßstab machen und erwarten, dass alle Menschen so leben und so leben wollen wie wir.
Ein wenig Demut würde uns gut tun. Ich beobachte bei uns Deutschen eine Art Arroganz, als wüssten wir alles besser und müssten die Muslime belehren. Begegnung heißt, sich auf Augenhöhe zu treffen.
Der Anti-Rassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen hat laut Meldung der Tagesschau am 15. Mai 2015 seine Besorgnis ausgedrückt über die „Ausbreitung rassistischen Gedankenguts“ in Deutschland. Es seien „effiziente Maßnahmen zur Bestrafung und Unterbindung entsprechender Reden und Verhaltensweisen“ nötig. Denken Sie, dass Verbote helfen?
Peltzer: Ich glaube nicht, dass wir mit Verboten weiterkommen. Natürlich ist es richtig klarzustellen, was in Ordnung und mit dem Gesetz vereinbar ist und was nicht. Wir brauchen aber vor allem mehr Dialog – in dem Sinne, dass ich ein Thema mal aus der Sicht eines anderen sehe, „in seinen Schuhen gehe“, und auch dem anderen erlaube, mit meinen Augen zu schauen. Das verstehe ich unter Integration. Da gibt es noch viel zu tun!
Das Zwischenmenschliche ist das Wesentliche
Vielleicht gehört es ja zum Menschenleben dazu, dass wir Fremdheit Unbehagen, Ängste spüren. Aber wie finde ich den eigentlichen Grund für diese Gefühle heraus? Das wäre doch wichtig, um bewusster zu leben und nicht ständig nach außen projizieren zu müssen.
Peltzer: Mein Ansatz ist etwas anders. Natürlich geht es darum, bewusster zu leben. Das ist das Ideal, aber es will gelernt sein. Wir können nicht erwarten, dass alle Menschen von sich aus bewusst sind. Bei vielen ist das einfach nicht so. Und sie brauchen trotzdem Angebote, um mit ihren Gefühlen zu sein und sich selbst erfahren zu können.
Früher saßen die Menschen im Dorf im Winter in dem einzig beheizten Raum in Gruppen beieinander. Da waren Erwachsende, Alte und eine Schar Kinder und Halbwüchsige. Es herrschte eine weitgehend offene Gesprächsatmosphäre. Die einen machten Handarbeit, die anderen spielten oder jemand schrieb einen Brief. Es gab viel Austausch und Kontakt. In so einer Gruppe lernten die Menschen voneinander und konnten Gefühle und Sorgen ausdrücken. Sie lernten von den Älteren, wie man das Leben meistert und wie man Schwierigkeiten und Konflikte bewältigen kann.
Ich will kein Bild einer heilen Welt der guten alten Zeit zeichnen, aber eine Sache war wichtig: Man lernte organisch, wie es im Leben zugeht und wie man mit Problemen umgeht. Heute nennen wir das Gruppentherapie. Wir bringen zehn Leute zusammen, die sich darüber austauschen, wie man mit Problemen umgeht. Dann gibt es noch einen Therapeuten, der meint, es noch besser zu wissen als die anderen. Im Wesentlichen moderiert er nur die Gruppe.
Das kann man auch einfacher haben, indem man Menschen zusammenbringt, um gemeinsam etwas zu tun. Hier brauchen wir kreative Ideen, wie Mehrgenerationenhäuser und andere Begegnungsmöglichkeiten.
Es geht Ihnen also nicht um Innenschau und Therapie zur Bewältigung der Probleme im Zusammenhang mit Rassismus, sondern Sie setzen auf die Selbstheilungskräfte und die Kraft, die aus Gemeinschaft entsteht.
Peltzer: Die Selbstheilungskräfte der Seele sind viel stärker, als wir glauben. Psychotherapie hilft, diese zu aktivieren. Unsere therapeutischen Theorien sind nicht so machtvoll, wie wir glauben. Das beweisen wissenschaftliche Untersuchungen. Sie zeigen, dass Therapie wirkt. Wenn man aber schaut, was genau wirkt, so steht ganz vorn das gute Miteinander von Therapeut und Klient. Die Methode fällt nur zu 10-15 Prozent ins Gewicht. Was heilt, ist die tragfähige und verlässliche Begegnung.
Mehr Möglichkeiten der Vertrautheit schaffen
Das heißt, durch achtsame Kommunikation unter Freunden ließe sich sehr viel erreichen, gerade um zwischenmenschliche Probleme zu lösen?
Peltzer: Das zeigt sich schon im Kleinen. Ich sehe immer wieder Ehepaare, die miteinander zerstritten sind und deshalb zur Paartherapie kommen. Die Ehepartner sind mit der Arbeit und den familiären Anforderungen über die Maßen beschäftigt. Die Beiden haben kaum Zeit, für sich zu sein, in Ruhe persönliche Dinge miteinander zu bereden, Intimität im Beisammensein zu erleben. Statt dessen bespricht man meistens nur noch organisatorische Erfordernisse. Viel mehr findet nicht mehr statt. So leidet die Intimität, die Zärtlichkeit, die Sexualität, und fünf Jahre später ist die Ehe vorbei.
Diese Möglichkeiten der Vertrautheit sind in unserer Gesellschaft zunehmend beschnitten durch hohe berufliche Anforderungen und soziale Verunsicherung. Für mich ist klar: Reden hilft. Denn das hilft meinem Geist, tiefer zu verstehen, worum es geht. Um reden zu können, brauche ich ein Gegenüber und Zeit. Nicht jemand, der mir kluge Ratschläge erteilt, sondern jemand, der mit zuhört, präsent, anwesend und annehmend ist.
Ich vereinfache natürlich. Sicher gibt es Probleme, die sich so nicht lösen lassen. Aber das, worüber wir hier sprechen wie Verunsicherung, Fremdheitsgefühle, alltägliche Ängste, Desorientierung – all das lässt sich durch einfache Mittel beheben. Wir haben also viele Möglichkeiten, im Miteinander zu einem neuen Selbstverständnis zu kommen.
Das heißt, wir müssten uns überlegen, wie wir es schaffen, uns wieder stärker verbunden zu fühlen.
Peltzer: Ja genau, es geht um Verbundenheit. Das Zwischenmenschliche ist das Wesentliche – das zu sehen und Begegnung zu ermöglichen und zu vollziehen.
Das Interview führte Birgit Stratmann
Dr. Guido Peltzer ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, niedergelassen in eigener Praxis in Drage bei Hamburg. Langjährige Leitungserfahrung als Oberarzt und in der Leitung von Gruppen für Ärzte, Psychotherapeuten und Führungskräfte. Meditationspraxis bei Swami Shyam, Indien, und Ulrich Hennigs, Hamburg.