Gemeinsam 8sam

Pro Juvente
Maria Kluge, Vera Kaltwasser, Sonja Schachtner, Lienhard Valentin, Dörte Westphal, David Steindl-Rast und Eline Snel bei der Fachtagung von Pro Juvente in Salzburg. |

Achtsamkeit in Erziehung und Schule

Referenten aus Europa und den USA reisten in diesem Jahr zur wegweisenden Fachtagung von Pro Juventute, einer österreichischen Kinderhilfsorganisation, nach Salzburg.
Die betont praxisbezogene Tagung unter dem Titel „Gemeinsam Achtsam“ verdeutlichte die nachhaltig positiven Wirkungen von Achtsamkeitstraining in Erziehung, Schule und Sozialpädagogik.
„Rechte Achtsamkeit muss immer lebensbezogen sein“, so der Benediktinerpater David Steindl-Rast in seiner Eröffnungsrede. In der ursprünglichen Bedeutung müsse diese immer „gemeinsame Achtsamkeit“ sein, die sich mit dem Leben verbindet und zur Verbundenheit und Zusammenarbeit führe. Daher heiße es, dem Leben und jedem Augenblick dankbar zu begegnen. Rechte Achtsamkeit grenzte er so von egobezogener Achtsamkeit ab.

Im Umgang mit Kindern in der Schule regte er die Anwendung der Achtsamkeitsglocke an, um Stop-Signale in den Tag einzubauen. „Wenn im Kloster von Thich Nhat Hanh die Glocke läutet, bleibt alles stehen.“ Als einfache Praxismethode aus der Verkehrserziehung empfahl er: „Stopp, Look, Go!“ als Gelegenheit, bewusst innezuhalten, zu beobachten und für jeden Augenblick dankbar zu sein. „Dankbarkeit ist eine große spirituelle Übung und der Schlüssel zur Freude.“ Jungen Menschen sollte man die Fähigkeit in Form gemeinsamer Achtsamkeit vermitteln, sich selbst zu erkennen, bewusst zu leben und glücklich zu sein. Am Ende seiner Rede erhielt Bruder David „Standing Ovations.“
Lienhard Valentin, Gründer des Vereins „Mit Kindern wachsen“ bestätigte: „Wir sind nicht in Kontakt mit dem Leben, das gerade stattfindet.“ Er setzt sich seit rund eineinhalb Jahrzehnten für die Praxis der Achtsamkeit im Leben mit Kindern ein. Humorvoll wies er viele hilfreiche Wege für Eltern aus der Stressfalle, zitierte aus Psychologie und Gehirnforschung. Auch die eigenen inneren Werte könnten ein roter Faden für die innere Orientierung sein. Dabei könne man sich stets fragen und aufmerksam beobachten: „Welches Ich sitzt gerade am Steuer meines Busses? Was brauche ich zur bewussten Einsicht, wer meinen inneren Bus fahren soll?“ Achtsamkeit als Weg bezeichnete er als eine Möglichkeit Menschen zu stärken.

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© www.renatealf.de

Achtsamkeit als Prävention in der Schule

Stress und Angst betreffen ganz besonders die leidtragenden Kinder in unserer Gesellschaft und fördern chronische Krankheiten. Vera Kaltwasser und Niko Kohls von der Hochschule Coburg präsentierten die Achtsamkeitsarbeit in deutschen Schulen und die Ergebnisse zu einer gemeinsamen Studie über AISCHU®, einem Achtsamkeitsprogramm zum Stressabbau, das Vera Kaltwasser speziell für Schulen entwickelt hat.
Danach klagen 90 Prozent der Schüler heute über Stress. Laut Weltgesundheitsorganisation ist Stress die größte Gefahr des 21. Jahrhunderts. Dank Achtsamkeitstraining können Schulkinder heute lernen, präsent zu bleiben, Spannungen abzubauen, Emotionen bewusst zu steuern und mit unangenehmen Gefühlen umzugehen.
Im Moment vollziehe sich ein Paradigmenwechsel weg vom theoretischen „Bulemie-Lernverfahren“ hin zu mehr erfahrungsbasiertem und kinderfreundlichem Lernen, so Kohls. Über das derzeitige Defizit der rein rationellen Wissensvermittlung sagte er: „In allen Schulen und Unis bekommen wir Fachwissen vermittelt, aber nicht, wie man mit sich selbst umgehen soll.“ Die Auswertung der Studie belegte u. a., dass in Klassen mit Achtsamkeitspraxis die Konzentrationsfähigkeit der Kinder deutlich zunahm. Bei der Wirkung der Achtsamkeit manifestiere sich der größte Effekt bei Kindern. Kohls: „Ich bin froh, dass Frau Kaltwasser hier ein hilfreiches Präventionspotenzial entwickelt hat.“

“Stillsitzen wie ein Frosch”

Um Schulkinder zu inspirieren, sich entspannen und fokussieren zu können, hat der Mönch Soryu Fall aus den USA das kreative Programm „Mind the Music“ entwickelt. Dieses einzigartige Training der Achtsamkeit durch Hören bewirkte bei nur fünf Minuten pro Tag innerhalb von drei Jahren nachweislich positive Ergebnisse:
Die Fähigkeit der Kinder, sich Ziele zu setzen, zuzuhören und zu entspannen verbesserte sich drastisch. Schulausschlüsse sanken von 125 pro Jahr auf 0. Im Vortrag referierte Soryu Fall anschaulich, wie die Schulkinder bei selbst ausgesuchter Musik entspannen und unter seiner Anleitung lernen, sich gleichzeitig in dieser Zeit zu konzentrieren und emotional Ziele in sich zu verankern.
Eline Snel, Gründerin der „Academy for Mindful Teaching“ aus den Niederlanden sprach über das von ihr liebevoll entwickelte Kinder- und Elternprogramm „Stillsitzen wie ein Frosch“. Das gleichnamige Buch der fünffachen Mutter und Erfolgsautorin wurde bereits in 26 Ländern verlegt.
Achtsamkeit versteht sie als Training des Geistes. Mit dem Symbol des Frosches vermittelt sie Kindern aller Altersgruppen das Sitzen in Stille und das Wahrnehmen des eigenen Körpers. Mittels der von ihr entwickelten Handbücher nach dem Programm „Achtsamkeit ist alles“ wurden bisher rund 6000 Kinder unterrichtet.

Baltimore Boys kümmern sich um gefährdete Jugendliche

Die größte Sensation der Fachtagung lieferten die sympathischen „Baltimore Boys“ aus den USA mit den Brüdern Ali und Atman Smith sowie Andres Gonzales. Mit ihren selbstentwickelten Yoga- und Atem-Programmen haben sie in den letzten zehn Jahren eine ungewöhnliche Methode entwickelt, gefährdete Jugendliche und chancenlose Außenseiter wieder erfolgreich in die Gesellschaft und Schule zu integrieren.
Die Schüler finden die Boys einfach „cool“, denn sie übertragen ihnen Verantwortung, nehmen sie ernst. Der Clou: „Wir bringen diesen Kindern bei, selbst Lehrer zu sein.“ In Baltimores Schulen, die von Drogen, Gewaltproblemen und Familienzerfall gezeichnet sind, bringen Kinder ihren Eltern heute Achtsamkeitsübungen bei. Das neueste Programm der Baltimore Boys „Mindful Moment“ mit 1200 Schülern läuft derzeit an der Patterson High School.
Das Projekt „Gemeinsam Achtsam“, das zurzeit in Salzburg umgesetzt wird, wurde von Pro Juventute unter Leitung von Sonja Schachtner gemeinsam mit Maria Kluge präsentiert. Mit Mut und Herz hatten beide Initiatorinnen die Fachtagung mit großem persönlichem Engagement initiiert. Auf dem Podium berichteten Lehrerinnen und Betreuerinnen ihre Erfahrungen mit der Pro Juventute Wohngemeinschaft und den Schulklassen. Nach einem achtwöchigen Training in Achtsamkeit unter Anleitung von Maria Kluge im Haus der Achtsamkeit in Osterloh äußerten sie sich begeistert. Monika Jell, Betreuerin einer Wohngemeinschaft für Jugendliche genießt heute das gemeinsame Innehalten mit Atempausen. Auch die Jugendlichen profitieren von der neuen Gelassenheit und Präsenz ihrer Betreuerinnen. Gemeinsamer Tenor: „Wir kommen von der Achtsamkeit nicht mehr los.“

Fotogalerie 1. Reihe Mitte: © Kolarik Austria Pressefotos

Weitere Infos:
www.projuventute.at
www.gratefulness.org/dankbarkeit.htm
www.vera-kaltwasser.de
www.academyformindfulteaching.com
www.hlfinc.org
www.osterloh.org

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