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Gibt es Gründe, Kindern nicht die Wahrheit zu sagen?

Fizkes/ Shutterstock
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Thema Lügen auf: “Wir wissen, dass Lügen das Vertrauen in Beziehungen untergräbt. Wie aber sieht es in der Beziehung zu unseren Kindern aus? Ist es okay, manchmal nicht die Wahrheit zu sagen?”

Frage: Wir Menschen lügen ziemlich viel – sei es, dass wir übertreiben, Dinge verschweigen usw. Eigentlich wissen wir, dass Lügen das Vertrauen in Beziehungen untergräbt. Wie aber sieht es in der Beziehung zu unseren Kindern im schulpflichigen Alter aus? Ist es da okay, nicht die Wahrheit zu sagen, z.B. über die Ehe oder über die Arbeit? Ich habe Angst, dass die Kinder sich zu viele Sorgen machen und möchte sie schützen.

Jay Garfield: Wann – wenn überhaupt – ist es angemessen, unsere Kinder anzulügen? Das ist eine komplizierte Frage, mit der sich alle Eltern schon einmal auseinandergesetzt haben.

Sollen wir den Kindern sagen, dass es nicht der Weihnachtsmann ist, der die Geschenke bringt? Ist es in Ordnung, ihnen zu sagen, dass wir sie immer beschützen werden, obwohl wir wissen, dass wir das nicht können. Ist es gut, ihnen Informationen vorzuenthalten, die sie beunruhigen würden?

Diese Fragen werden noch komplizierter, wenn wir das moralische Gebot, nicht zu lügen, als absolut ansehen, wie es etwa die Bibel oder auch der Philosoph Immanuel Kant tun. Dann sehen wir uns mit einem schrecklichen moralischen Dilemma konfrontiert: Sollten wir uns an das absolute Verbot halten oder das tun, was am besten für unsere Kinder ist und was sie schützt?

Um Tracy Chapman zu zitieren: “Manchmal ist eine Lüge das Beste”. Und dafür kann es viele Gründe geben, vor allem dann, wenn die Informationen für Kinder beunruhigend, unverständlich oder nicht nützlich sind.

Unsere Verpflichtung als Eltern, keinen Schaden anzurichten und die geistige und körperliche Gesundheit zu fördern, ist mindestens so verbindlich wie unsere Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen.

Die Lüge muss die Ausnahme bleiben

Wenn wir über diese Frage nachdenken, sollten wir uns zunächst daran erinnern, dass die Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, nicht absolut ist, ganz gleich, was Kant gesagt hat. Sogar in der hebräischen Bibel lügt Gott selbst, als er Abraham mitteilt, dass er Isaak opfern müsse.

Wenn ein Mörder Ihre Mutter töten will und Sie fragt, wo sie ist, tun Sie gut daran, zu lügen; andernfalls würden Sie sich der Beihilfe zum Verbrechen schuldig machen.

Die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, wird daher üblicherweise – und richtigerweise – als eine prima facie-Pflicht angesehen, die durch zwingende Erwägungen außer Kraft gesetzt werden kann.

Wir sollten uns also nicht denken, dass wir uns in einem unlösbaren Konflikt zwischen konkurrierenden absoluten Pflichten befinden. Das soll nicht heißen, dass Ehrlichkeit keine Rolle spielt oder dass sie eine unbedeutende Sache ist, eine Frage der bloßen Etikette.

Es ist wichtig, dass wir als Menschen Ehrlichkeit zu praktizieren und unseren Kindern beibringen. Lügen und Täuschen untergraben das Vertrauen. Regelmäßiges Lügen führt dazu, dass man Tatsachen nicht mehr anerkennt und der Wahrheit keinen Glauben schenkt. Das untergräbt unsere Beziehungen und den Diskurs. Die Lüge sollte daher eine Ausnahme bleiben und nur genutzt werden, wenn es absolut notwendig ist.

Könnten Sie die Lüge gegenüber Ihrem Kind später verteidigen?

Allerdings gibt es keine feste Regel, anhand derer wir allgemein entscheiden können, wann eine Lüge gerechtfertigt ist; ethische Entscheidungen sind selten einfach. Aber es gibt eine Möglichkeit, über diese Entscheidung nachzudenken. Stellen Sie sich diese Fragen:

Gibt es eine Möglichkeit, die Informationen, die ich zurückhalten möchte, so darzustellen, dass sie keinen Schaden anrichten? Wenn ja, versuchen Sie das. Wenn nicht, stellen Sie sich diese Frage:

Wenn mein Kind älter ist und die Wahrheit über diese Angelegenheit akzeptieren kann, ohne Schaden zu nehmen, wird es dann auch in der Lage sein, die Tatsache zu akzeptieren, dass mein Zurückhalten der Information in seinem besten Interesse war?

Sie fragen sich also, ob Sie die Lüge gegenüber Ihrem Kind später noch verteidigen können. Wenn Sie glauben, dass Sie das nicht können, überlegen Sie es sich noch einmal. Sprache ist ein Instrument, mit dem wir unser Leben koordinieren, Informationen weitergeben und das Leben füreinander besser machen.

Die Wahrheit ist wichtig, weil sie diese Ziele unterstützt, und nicht, weil sie einen transzendenten Wert besitzt. Wenn wir also diesen Werten nur dienen können, indem wir von der Wahrheit abweichen, sollten wir das tun; aber angesichts der zentralen Bedeutung der Wahrheit für unser gemeinschaftliches Leben sollten wir bedenken, dass diese Gelegenheiten in der Tat selten sein sollten.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
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