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Gute Medizin orientiert sich am Menschen

Alexander Raths/ shutterstock.com
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Klinische Ethik-Beratung ist nötig

Für Professor Karl-Heinz Wehkamp hängt Gute Medizin davon ab, ob sie eine ethische Basis hat. Das bedeutet vor allem, dass sie sich an den Bedürfnissen des Patienten orientiert statt an der technischen Machbarkeit.
Während meines Medizinstudiums und der anschließenden zehnjährigen klinischen Tätigkeit in einem Klinikum der Maximalversorgung habe ich das Wort „Ethik“ nie gehört und nur selten gelesen. Dies galt auch für die häufig besuchten Fachkongresse. Es fiel nicht besonders auf, dass die Medizinethik fehlte.
1990 habe ich erstmals in einer Veröffentlichung eher spontan von einem „ethischen Imperativ“ geschrieben, um zur Unterstützung damals noch schwacher wissenschaftlicher Evidenz Gründe für einen veränderten Umgang mit dem perinatalen Kindstod anzuführen, dessen Kern die Annahme des verstorbenen Kindes war. Das Kind sollte einen Namen bekommen, gesehen, bestattet und betrauert werden können, einen Ort in der Lebensgeschichte der Frau und in der Familie bekommen. Wir hielten dies aus Gründen der psychischen Gesundheit der Frauen und zur Unterstützung weiterer Schwangerschaften für geboten.
Die Publikation begann mit folgenden Sätzen: „Die Grundlagen der Medizin sind wissenschaftliche und ethische. Bei der Konfrontation mit dem perinatalen Kindstod sind beide Aspekte gefordert. Kommt die ethische Komponente in unserer Ausbildung zu kurz, so können wir uns auch unter wissenschaftlichem Aspekt nicht richtig verhalten.“ (1)
Das Ethik-Argument war aus der Praxis entstanden, führte aber damals noch nicht zu einer systematischen Beschäftigung mit der Medizinethik. Mein eigenes Bemühen um eine „bessere Medizin“ bestand stattdessen in einer Ergänzung der konventionellen klinischen Tätigkeit durch psychosoziale Aspekte. Psychosomatik war dabei mein Hoffnungsträger.
Noch immer bin ich der Ansicht, dass im Konzept der „Anthropologischen Medizin“ Viktor von Weizsäckers eine implizite Ethik enthalten ist, besonders in seinem Bemühen um die Achtung des Subjekts und in seiner Berücksichtigung der Biografie des Patienten.
Auch sehe ich in der Arbeit der Balint-Gruppen Komponenten der Arbeit Klinischer Ethik-Komitees. Dennoch blieb die Orientierung an der Psychosomatik in vieler Hinsicht unbefriedigend. Insbesondere konnte sie schon von ihrem Selbstverständnis her die Diskursivität über Sollensansprüche nicht ersetzen.

Behandlung trotz fehlender Erfolgschancen

Zwei besondere klinische Ereignisse zeigen mir dann deutlicher die Notwendigkeit explizit ethischer Überlegungen:
In einem Fall wurde eine 40-jährige Frau mit einem sehr seltenen, hoch aggressiven Tumor trotz evidenter Aussichtslosigkeit zu Tode behandelt. Die iatrogene Belastung und Schädigung stand in keinem Verhältnis zu den Erfolgschancen der Behandlung. Der Ehemann dominierte durch seine Verlustängste das Therapieregime, der Wille der Patientin selbst wurde nur unzureichend ermittelt.
Eine Wende des Therapieziels in Richtung Palliation fand nicht statt. Mehr ethische Klarheit, ein ethisches Konsil oder die Beratung in einem Klinischen Ethik-Komitee hätten hier die Qualität der medizinischen und pflegerischen Behandlung verbessert. Aber damals gab es weder Klinische Ethikberatung noch die Palliativmedizin.
In einem anderen Fall bestand eine 38-jährige Schwangere trotz eigener Lebensgefährdung durch ein chronisches Nierenleiden und drohendem HELPP-Syndrom auf einem Austragen ihrer Schwangerschaft. Während die Geburtshelfer ihren Wunsch trotz des hohen Risikos für die werdende Mutter unterstützten, forderten die hinzugezogenen Anästhesisten einen Abbruch der Schwangerschaft wegen der hohen Gefährdung.
Dieser Konflikt verschärfte sich über mehrere Wochen, bis die erste Chance zum Überleben des Kindes unter neonatologischer Intensivtherapie gegeben war. Aufgrund einer akuten Zuspitzung der Lage musste ein Blitzkaiserschnitt durchgeführt werden. Während das Kind sicher entbunden wurde und überlebte, erlitt die Frau noch auf dem OP-Tisch eine tödliche Lungenembolie.
In den folgenden Stunden, Tagen und Wochen wurde dieser Entwicklung nicht von allen beteiligten Ärzten und Pflegenden aufgearbeitet, wie man es heute mit ethischer Kompetenz im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung tun würde, sondern es kam zu erbitterten gegenseitigen Vorwürfen, die das Klima der Zusammenarbeit erheblich belasteten und auf diese Weise zu einem Risiko für andere Patienten wurden.
Während eines von Hans Martin Sass geleiteten medizinethischen Kurses an der Georgetown Universität konnte ich mich von Theorie und Praxis klinischer Ethik-Beratung an Ort und Stelle überzeugen. Seitdem engagiere ich mich in der Organisation und Praxis der Ethik in Kliniken, Medizin und Gesundheitswesen.

Medizinethik als Gegengewicht zur technischen Medizin

Medizinethik ist sinnvoll, wenn und insofern sie beiträgt zu guter Medizin. Gute Medizin zeichnet sich aus durch ihren Beitrag zum Leben jener Menschen, die Medizin in Anspruch nehmen. Medizinethik ist jene Kompetenz und jenes intellektuelle Potenzial, das die Medizin in ihrer Zielrichtung orientiert, sich mehr mit dem ‚ob’ als dem ‚wie’ der Maßnahmen befasst.
Sie misst jede medizinische Maßnahme, Organisation und Struktur daran, ob und wieweit sie Menschen dient. Da diese Frage oft nicht klar zu beantworten ist und das Potenzial für Konflikte und Feindschaft in sich trägt, ist die ethische Kompetenz insbesondere in komplexen Problemsituationen und in Dilemmata von Bedeutung.
Medizinethik kann der „Qualitätssicherung“ der Medizin dienen, und zwar im ursprünglichen Sinn des Wortes Qualität, das sich nicht auf Quantitatives reduzieren lässt. Insofern ist ihr ein Großteil des aktuellen Qualitätsmanagements sehr fremd, da dieses von Messverfahren und dem Prinzip des Quantifizierens und Vergleichens lebt.
Medizinethik ist reflexiv, diskursiv, kommunikativ, qualitativ. Sie umfasst und prüft die technisch-wissenschaftliche Dimension der Medizin. Unermüdlich muss sie daran arbeiten, den Führungsanspruch objektivierender wissenschaftlicher Medizin einzugrenzen und zurück zu weisen.
Richtig verstanden ist sie ein Lotse der wissenschaftlichen Medizin und ein unverzichtbares Element ihrer selbst. Systemtheoretisch gedacht leistet sie die Selbstreflexion des Medizinsystems, idealerweise aber im Dialog und Austausch mit anderen Systemen, Professionen und Menschen.
Medizinethik reflektiert das gesamte Unternehmen der Medizin, die einzelnen auf Individuen (Patienten) bezogenen Maßnahmen und Entscheidungen ebenso wie die Organisations- und Finanzierungssysteme (Mesoebene) sowie die medizinische Wissenschaft als Ganzes. Alle Bemühungen zur Gesundheitsversorgung von lokaler bis globaler Dimension sind ihr Gegenstand.
In der Praxis ist Medizinethik wichtig, um „gute medizinische Entscheidungen“ zu treffen und damit „gute Medizin“ zu ermöglichen. Dies kann erreicht werden ermöglicht durch eine fortwährende Aufmerksamkeit auf die Prüfung und die Maßstäbe der medizinischen Qualität. Dabei schaut sie nicht nur auf individuelles Verhalten und Entscheiden sondern auch deren Rahmenbedingungen, Potenziale und Ressourcen. Reflexiv prüft sie fortwährend die medizinischen Denkformen und Paradigmen. Ebenso überprüft sie fortlaufend ihre eigenen Konzepte und Praxis.
Karl-Heinz Wehkamp
(1) K. H. Wehkamp: Umgang mit dem Perinatalen Kindstod: ethischer Imperativ und psychoprophylaktische Aufgabe, in K. H. Wulf, H. Schmidt1 -Matthiesen, Klinik der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, München, Wien, Baltimore 1990, Urban und Schwarzenberg,Band 7/II , S. 447
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Akademie für Ethik in der Medizin
Professor WehkampProf. Dr. rer. pol. Dr. med Wehkamp unterrichtet und forscht an der Universität Bremen. Zuvor Lehrtätigkeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Seit vielen Jahren als Berater für klinische Ethik, Organisations- und Unternehmensethik tätig. Seine Schwerpunkte sind „Ethik und Ökonomie“ sowie „Therapiemaß und Sterbehilfe“. Seit 1994 Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin.

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