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Handlungsfähig bleiben in der Krise

eamesBot-web/ shutterstock.com
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Ein Standpunkt von Sabine Breit

Selten war Besonnenheit so wichtig wie in Zeiten von Corona: die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen und viele Perspektiven einzubeziehen, statt in Lagern zu denken und kopflos zu handeln, ist Sabine Breit überzeugt. Ob es gelingt, die Krise gut zu bewältigen, wird davon abhängen, ob Experten, Politiker und jeder Einzelne sich in den Dienst des Ganzen stellt.

Er ist wieder da. Der Evergreen der Unwörter: alternativlos. Man hätte meinen und hoffen können, das Wort sei nach der Finanzkrise 2008 endgültig als das diskreditiert, was es ist: dummerhaftig und einer Demokratie unwürdig. Dann kam Corona. Wie entsteht so ein Klima des Alternativlosen? Durch Angst. Und durch Systeme und Mechanismen, in denen sie sich verbreiten kann und ein Eigenleben annimmt.

Und wie sollte man es auch nicht mit der Angst zu tun bekommen. Es waren und sind furchtbare Bilder, die uns mehrmals täglich auf allen Kanälen erreichten und erreichen, zunächst aus China, dann aus Norditalien, aus Spanien und nun aus New York. Jeden Tag erhalten wir stetig steigende Infiziertenzahlen aus diesen Orten.

Über Länder und Regionen, in denen weniger Tote zu beklagen sind, erfahren wir dagegen nichts, wenn wir nicht gezielt danach suchen. Und auch sonst gibt es über lange Zeit kaum Nachrichten, die dazu geeignet wären, ein vollständigeres, differenziertes Bild der Weltlage zu zeichnen, was unsere Angst vielleicht mindern könnte.

Lagerdenken und moralische Absolutheit

Ein Ventil für diese Angst sind die sogenannten sozialen Medien. Neben Solidarität und Anteilnahme findet dort leider auch das Übliche statt – Verschwörungstheorien, Halbgares und Lagerkämpfe. Vor allem Letzteres. Leben oder Existenz. Lockdown oder Exit. Drosten oder Streeck.

Wo ein „sowohl als auch“ dringend geboten wäre, herrscht das „entweder oder“. Gänzlich alternativlos wird es, wenn dieser Lagerkampf mit einer absoluten moralischen Wertung von Positionen verknüpft wird. Frei nach dem Motto: „Sage mir, wer Dein Lieblingsvirologe ist, und ich sage Dir, was für ein Mensch Du bist.“

So werden aus, soweit ich dies beurteilen kann, angemessenen staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virusgeschehens, auf Twitter autoritäre #Stay at Home und #MaskeAuf-Befehle. Als hätte man tatsächlich das Recht, seinen Mitmenschen Befehle zu erteilen.

Über die üblichen Algorithmen, die immer das in Timelines und Suchmaschinen spülen, was gerade im Trend liegt, wird dieser Effekt verstärkt. Wenn wiederum die Medien dies aufnehmen und gleichzeitig immer weniger Menschen rausgehen, um das „Twitter-Gewitter“ durch echte Gespräche und Beobachtungen mit anderen Wirklichkeiten abzugleichen, gewinnt die Teilwirklichkeit von Social Media überproportional an Macht.

Nicht sehen, hören, fühlen

Politikerinnen und Politiker greifen diese Trends auf und verwandeln #Stay at Home- und #MaskeAuf-Befehle geschwind in Bußgelder und Maßnahmen, bei denen das Prinzip von Maß und Mitte und das eigentliche Ziel des Infektionsschutzes zunehmend verloren zu gehen scheint. Und sie werden für dieses angeblich alternativ- und kompromisslose Macher-Gehabe mit wachsender Popularität belohnt. In einem solchen Klima wird eine hastig zusammengestrickte Überwachungs-App nicht lange freiwillig bleiben. #AppAn ist wahrscheinlich schon in Vorbereitung.

Diese Entwicklung bereitet mir Sorge. Zum einen, weil sie Blockwart-Attitüden, Denunziantentum und eine Sehnsucht nach dem „starken Mann“ zutage fördert, die man, gelinde gesagt, als befremdlich bezeichnen muss.

Vor allem aber, weil sie die Frage aufwirft, wie wir mit dieser Kombination aus Lagerdenken und moralischer Absolutheit die hochgradig komplexen Herausforderungen während und nach der Pandemie meistern wollen. Weil es eine Haltung der Verschlossenheit ist. Eine Haltung, die nicht sehen und hören, nicht fühlen, nicht reflektieren und vor allem sich nicht selbst hinterfragen will.

Komplexität braucht Offenheit

Dabei weißt uns schon der Name des Virus darauf hin, was anstelle von Alternativlosigkeit jetzt wirklich gefordert ist. Laut Pons online heißt „Corona“ auch „Kreis von Zuhörer“. Die „Coronae“ sind die Zuhörer. Und tatsächlich sind wir gerade jetzt, wo vieles stillsteht und gleichzeitig so viel passiert, aufgefordert, genau hinzuhören und hinzusehen, was sich in dieser Stille wirklich zeigt.

Offensichtlich trifft das Virus Gemeinschaften und Gesellschaften auf ganz unterschiedliche Weise. Es macht unterschiedliche Stärken und Schwächen sichtbar. Dies in seiner ganzen Tiefe und Breite zu erkennen und damit zu arbeiten, kann eine der wichtigsten Lehren dieser Krise werden.

In einem Klima der Alternativlosigkeit wird dies aber nicht gelingen. Vielmehr braucht es die Fähigkeit, Komplexität mit offenem Herzen und klarem Verstand ebenso rasch wie gründlich zu durchdringen, verschiedene Stimmen gleichberechtigt an den Tisch zu bringen und zur Geltung kommen zu lassen, Muster zu erkennen und besonnen zu wägen, um so zu differenzierten und angemessenen Lösungen zu kommen. Ein Beispiel für eine solche Herangehensweise ist etwa das unlängst erschienene Papier des Deutschen Ethikrates mit dem Titel „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“.

Diese Haltung der Offenheit und des besonnenen Wägens wird auch in Zukunft unser wichtigstes Rüstzeug sein, wenn es darum geht, nachhaltig mit all dem umzugehen, was die aktuelle Situation ans Licht bringt: Mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage, mit sozialen Ungerechtigkeiten, mit der fehlenden Nachhaltigkeit unseres aktuellen Wirtschaftens, unserem eigenen Konsumverhalten, mit autoritären Regimen oder mit dem Verhältnis der Generationen. Jede einzelne dieser Aufgaben ist komplex. Das Gesamtgefüge und der angemessene Ausgleich zwischen gleichberechtigten Werten und Notwendigkeiten erst recht.

Es kommt auf die Reife an

Ob wir diese komplexen Aufgaben in kreativer und nachhaltiger Weise lösen, ist vor allem eine Frage unserer individuellen und kollektiven Reife. Alternativlosigkeit ist pubertär. Sie wird uns in Sackgassen führen. Der angemessene Umgang mit komplexen Zusammenhängen erfordert Reife. Weil das Ergebnis einer Maßnahme oder Entscheidung vor allem von der inneren Verfasstheit derjenigen abhängt, die diese treffen bzw. umsetzen.

Ob wir es etwa mit Menschen zu tun haben, die sich in den Dienst stellen oder die ihr eigenes Ego pflegen möchten. Denen es auf gute Ergebnisse zum Wohle aller oder die Durchsetzung der eigenen Position ankommt. Da wir alle eine Rolle beim Gelingen des gegenwärtigen und zukünftigen Miteinanders zu spielen haben, dürfen wir uns gerne selbst dahingehend hinterfragen.

Ganz besonders gilt dieser „Charaktertest“ aber für all jene, denen wir uns bei allem, was wir nicht selbst gestalten und entscheiden können, anvertrauen. Es reicht nicht, ein Experte zu sein. Wer für uns entscheiden oder uns guter Ratgeber sein soll, muss auch ein reifer Mensch sein. Bereit, sich in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen. Verantwortung zu übernehmen und voranzugehen, wenn es erforderlich ist, sich aber ebenso wieder zurückzuziehen, wenn die Arbeit getan ist.

Er oder sie muss willens und in der Lage sein, anderen genau zuzuhören, das Gehörte vorurteilsfrei zu verarbeiten und die eigene Position zu überdenken. Schließlich muss er über die Fähigkeit verfügen, Erkanntes so zu erklären, dass es von möglichst vielen Menschen so verstanden wird, dass sie handlungsfähig bleiben oder werden. Statt in Schockstarre oder hektischen Aktionismus zu verfallen.

In den Schuhen der anderen

Es bleibt abzuwarten, wie es mit dieser Reife steht. Getragen von zahlreichen Gesprächen abseits der 280-Zeichen-Grenze bin ich trotz der erwähnten Sorge hoffnungsvoll, weil diese Qualitäten gerade allerorten in den unterschiedlichsten Menschen sichtbar werden.

Durch alles, was gerade offenbar wird, scheint uns Corona auch die Gelegenheit zu geben, uns in mannigfaltiger Weise in die Schuhe der anderen zu stellen und uns so aus unserem Lagerdenken zu befreien. Wir bekommen die Chance, uns zu öffnen für andere Wirklichkeiten, die ansonsten zu weit von der unseren entfernt sind, um uns zu berühren.

So geben uns die gegenwärtigen Einschränkungen einen Eindruck davon, wie es sein mag, unter einem Regime zu leben, das seinen Bürgern Grundrechte verweigert, die für uns selbstverständlich sind. Leere Regale geben uns eine Ahnung davon, wie es Menschen geht, für die das der Normalzustand ist. Entweder weil es in ihren Ländern kaum etwas zu kaufen gibt, oder weil sie so arm sind, dass auch ein volles Regal ein Leeres ist. Frauen und Kinder, die von Ausgangsbeschränkungen an Leib und Seele bedroht sind, rücken in unser Bewusstsein. Ebenso wie die Existenznöte von Kleinbetrieben und Selbständigen, von denen wir vielleicht immer dachten, die fahren alle Porsche.

Der gegenwärtige Verlust von Planbarkeit gibt uns einen klitzekleinen Einblick in die Normalität vieler Menschen im globalen Süden, für die Planbarkeit die Ausnahme und nicht die Regel ist. Denn es ist im Township oder auf den Straßen von Delhi am Morgen keineswegs gewiss, ob man am Abend etwas auf dem Teller haben oder gar noch am Leben sein wird. Auch können wir ermessen, wie es sich anfühlt, wenn es keinen Impfstoff gegen etwas gibt, was uns elementar bedroht. Ein Gefühl, mit dem Menschen in Malariagebieten seit Generationen leben.

So können nicht nur in uns, sondern auch im Außen neue Räume entstehen, in denen man sich bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen begegnen kann. Räume, in denen man wahrhaftig wird, die eigene Angst einräumen kann und sich nicht hinter markigem oder trotzigem Gehabe verstecken muss. Und Räume, in denen Angst zuweilen allein mit einer Geste oder einem verständnisvollen Lächeln aufgelöst wird – zum Beispiel, wenn wir uns als Wildfremde auf einem Spaziergang, an der Supermarktkasse, in der S-Bahn oder andernorts begegnen und aus der Distanz eine stille Verbundenheit herstellen.

Es sind diese Räume, in denen wir reifen und in denen neue Lösungen entstehen können. Es muss nur gelingen, dass es das, was dort entsteht und die Stimmen, dies es in die Welt tragen, durch die Triage, also die Selektionsmechanismen der Algorithmen schaffen.

 

Sabine Breit hat angewandte Sprachwissenschaft studiert und ist seit über 20 Jahren als Linguistin in die Unternehmenskommunikation sowohl mittelständischer Unternehmen als auch internationaler Großkonzerne eingebunden. Sie ist u.a. Mitgründerin von LogosLogos. Sabine hat eine bezaubernde Tochter, eine sehr kommunikative Katze und findet Ausgleich vom Kommunizieren im Reisen, beim Lesen, beim Sport und in der Meditation.

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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