Wichtig ist der mitfühlende Zeuge
Im Zuge des Ukraine-Krieges kommen traumatisierte Kinder in unsere Schulen. Traumapädagogin Gabriele Siebert erklärt, wie sich Traumata zeigen und was Pädagogen, Eltern und Laien tun können, um jungen Menschen zur Seite zu stehen. Wichtig sei, die Kinder nicht zu verurteilen oder zu disziplinieren.
Die Traumaexpertin Gabriele Siebert unterrichtet geflüchtete Jugendliche und hilft ihnen, posttraumatische Symptome zu verstehen und sich zu stabilisieren. Im Rahmen des UNHCR Österreich entwickelte sie als Mitautorin ein Handbuch für Schulpädagogen zum Umgang mit traumabedingten Stressreaktionen.
In diesen schwierigen Zeiten stehen viele Pädagoginnen und Pädagogen vor großen Herausforderungen. Die Frage ist: Wie lassen sich traumatisierte Kinder und Jugendliche aus Kriegsgebieten in bestehende Schulklassen integrieren?
Traumapädagogin Gabriele Siebert berichtete auf dem internationalen Kongress „Migration und Achtsamkeit“ im Juni 2022 darüber, woran sich generell ein Trauma erkennen lässt und wie Pädagogen und Laien damit umgehen können. Fakt ist: Traumatisierte Kinder und Jugendliche suchen Schutz und Sicherheit und zeigen manchmal Verhaltensauffälligkeiten. Könnte Achtsamkeitspraxis zur Stabilisierung hilfreich sein?
Siebert: „Achtsam sein heißt, verbunden zu sein mit sich und der Welt. Traumata sind immer gekappte Verbindungen. Die größten Herausforderungen unserer Zeit sind nicht der Klimawandel oder der Weltfrieden. Die größte Herausforderung ist die Entfremdung von uns selbst und der Welt.“
„Trauma entsteht, wenn der mitfühlende Zeuge fehlt“
Gabriele Siebert arbeitet voller Mitgefühl mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Viele ihrer Vorfahren haben bis in die vierte Generation zurück ihren jeweiligen Heimatort verlassen. „Das Trauma von Kriegsangst, Heimatverlust und Sprache sitzt tief in mir.“ Trauma ist für sie, wenn wir etwas erleben, was uns zutiefst erschüttert und uns innere und äußere Ressourcen fehlen, um diese Situation gut zu bewältigen.
„Die Erlebnisse während eines traumatischen Ereignisses erfolgen oft so schnell, dass wir sie nicht verarbeiten können.“ Doch das Ereignis selbst ist noch nicht das Trauma. Der US-amerikanische Psychotraumatologe Peter Levine: „Trauma entsteht, wenn der mitfühlende Zeuge fehlt.“
Dieser mitfühlende Zeuge könne jeder sein, sagt Siebert, auch ein Familienmitglied. Wichtig sei, dass wir nach dem Trauma lernen, Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden, denn das gelingt nach dem traumatischen Ereignis oft nicht.
Das autonome Nervensystem habe keine Möglichkeit, sich zu beruhigen. Denn das Gefühl der Bedrohung hält auch nach dem Ende der Gefahr an, wenn man keine Hilfe erfährt oder genügend Ressourcen zur Verfügung hat. Es versteht nicht, dass die Gefahr vorüber ist. So kann jede kleinste Situation, die Gefahr bedeutet, immer wieder Stressreaktionen auslösen.
Schule − für traumatisierte Kinder ein stressiger Ort
„Besonders Schule ist für traumatisierte Kinder ein stressiger Ort.“ Das müsste jedoch nicht sein, so Siebert. Wir sollten unterscheiden zwischen Angst vor einem Examen oder vor einer Lehrperson. „Ich arbeite mit Geflüchteten und sehe jeden Tag, welche Symptome Jugendliche mit einer dramatischen Vergangenheit haben.“
Viele traumatisierte Kinder sind unruhig. Sie zappeln, müssen aufstehen. Manche schauen sich um, ob Gefahr droht. Andere streiten oder fühlen sich angegriffen, reagieren nicht angemessen.
Manche haben das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden oder dass jemand ihnen schaden möchte. Sie können sich nicht konzentrieren und merken sich wenig. Siebert: „Das sind Symptome von Hochstress. Sie sind außerhalb der OK-Zone im oberen Bereich, d. h. das Nervensystem ist hoch aktiviert.“
Nach Daniel Siegel befinden wir uns im beruhigten Zustand, wenn wir uns sicher und wohl fühlen. Die mittlere Zone ist die Wohlfühl- oder OK-Zone. Aus diesem Zustand, der OK-Zone, fallen wir heraus, wenn wir Stress haben. Die normale Stressreaktion kann chronifizieren, wenn wir uns dauerhaft im posttraumatischen Hochstress befinden.
Andere Jugendliche sind unterhalb der OK-Zone. Das zeige sich, indem sie bei Aktivitäten oder Spielen nicht mitmachen wollen. Im Unterricht melden sie sich kaum zu Wort, wollen die Jacke nicht ausziehen. Sie trauen sich wenig zu, sind oft still und unauffällig.
Die Kinder nicht verurteilen oder disziplinieren
„Leider haben die meisten Lehrerinnen und Lehrer nicht gelernt, diese Symptome im Auge zu haben“, so Siebert. Oftmals sind traumatisierte Schüler dissoziiert und gleiten aus der Gegenwart heraus. Sie schauen aus dem Fenster, haben einen leeren Blick, atmen flach und sind sehr blass. Viele dieser Kinder und Jugendlichen sind depressiv. „Die Pandemie und der Klimawandel verstärken diese Problematik.“
Wichtig für Pädagogen: „Das Nervensystem weiß immer, was richtig für uns ist. Wenn wir auf diese Kinder eingehen, müssen wir verstehen, dass ihr Verhalten von ihrem autonomen Nervensystem gesteuert wird, das sie nicht kontrollieren können.“ Daher sollte man sie nicht für ihr Verhalten verurteilen oder disziplinieren.
Siebert nennt Beispiele, wie man in diesen Fällen gut reagieren kann, ohne eine fachspezifische Ausbildung als Traumapädagogin oder traumasensitive Achtsamkeitstrainerin zu haben.
„Das Wichtigste“, findet Siebert, „ist, dass diese Kinder und Jugendliche die Wahl haben, wenn sie bei einer Aktivität nicht mitmachen wollen.“ Was häufig passiert: Kinder passen sich dem Gruppendruck an, weil sie sich nicht schämen wollen und dazugehören wollen. Anderenfalls werden sie manchmal als langweilig, mutlos und feige abgestempelt.
Traumatisierten Kindern immer die Wahl lassen
Hilfreich sei es, freundliche Einladungen auszusprechen, aber niemanden direkt anzusprechen, sondern offen zu formulieren. Z.B.: „Ich würde gerne etwas ausprobieren und bin neugierig, was ihr mir rückmeldet.“ Ratsam ist es auch, kurze Bewegungsübungen in abwechslungsreiche Lernspiele einzubauen. Traumatisierte Kinder wollen manchmal ihren Sitzplatz nicht verlassen, weil sie sich dort sicher fühlen. Pädagogen sollten das respektieren.
Siebert macht viel Psychoedukation. „Es ist wichtig, dass die Kinder verstehen, dass es ganz normal ist, wie sie reagieren.“ Bewusst fragt sie nie: Was ist dir passiert? Sie lässt den Kindern immer die Wahl, ob sie etwas erzählen möchten. Sie sucht nicht nach Traumamaterial, sondern erarbeitet in der Gegenwart gemeinsam Möglichkeiten, sich zu stabilisieren. „Ich muss nicht wissen, was passiert ist.“
Manche Jugendliche sagen über sich: „Ich bin so dumm! Ich kann mir nichts merken.“ Das schlimmste Gefühl, so Siebert, sei, sich dafür zu schämen, wie man ist. In diesen Fällen erklärt sie den Kindern die Stressreaktion über das Handmodell von Daniel Siegel1. So bekommen sie ein Gefühl dafür, dass sie nicht dumm sind oder sich noch mehr anstrengen müssten.
„Mit traumatisierten Menschen können wir nicht Achtsamkeit praktizieren“, so Siebert. Aber ratsam sei es für Pädagoginnen und Pädagogen, selbst Achtsamkeit zu üben. Hilfreich sei es, in Stresssituationen Pausen einzulegen oder eine Selbstmitgefühlspause zum Beispiel nach Kristin Neff zu praktizieren.
„Wenn wir lernen, in Stresssituationen innezuhalten und Raum zu geben, haben wir die Wahl, wie wir reagieren wollen.“ Diese Präsenz bräuchten wir im Umgang mit anderen Menschen. „Wenn wir präsent sind, sind wir verbunden mit allen Lebewesen“, so Siebert.
„Diese tiefe Verbundenheit führt dazu“, so die Traumaexpertin, „dass wir keine Kriege führen, keine Umwelt zerstören, uns nicht von Gier leiten lassen und dass wir wissen, dass wir ein Teil des Ganzen sind.“
Anmerkungen:
1.Handmodell von Daniel Siegel: www.youtube.com/watch?v=qFTljLo1bK8
Michaela Doepke
Gabriele Siebert, Traumapädagogin und Autorin aus Wien, Referentin beim Kongress „Migration und Achtsamkeit in einer sich ständig wandelnden Welt“. Mehr: www.mindfulmara.at und www.traumasensibleschule.at
Weitere Infos zum Thema
Das Handbuch „Flucht und Trauma im Kontext Schule“, an dem Gabriele Siebert mitgearbeitet hat, gibt es als Gratisdownload auf der Website des UNHCR Österreich. Es richtet sich an Pädagogen, die mit potenziell traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten. Derzeit ist es gerade in der Ukraine in der 6. Klasse in Anwendung. Zum Handbuch
Auf der Website www.trauma-surviving.com gibt sie im Rahmen des Arbeitskreises Trauma Surviving eine Psychoedukative Heftreihe heraus. Die Bildgeschichten zeigen den Umgang mit emotionalen Verletzungen. Sie helfen Jugendlichen, mit posttraumatischen Problemen und schwierigen Gefühlen wie Wut, Schlaflosigkeit, Verlust und Trauer umzugehen. Sie werden bisher in Deutsch, Englisch, Arabisch, Kurdisch, Dari, Ukrainisch und Rumänisch angeboten.
Bilderbuch für Kinder und Erwachsene über Hilfe nach traumatischen Erlebnissen mit Kriegs- und Fluchterfahrungen in 14 Sprachen unter: www.susannestein.de