Diskussion: Soll man Bilder des Leidens anschauen?
Die Autorin Juli Zeh hat im „Stern“ eine wichtige Diskussion angestoßen: Sollen wir Bilder, etwa von Exekutionen durch die IS, betrachten? Machen wir uns damit mit den Terroristen gemein? Oder wäre Wegschauen gleichbedeutend mit Gleichgültigkeit?
Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Bilder berühren uns unmittelbar und direkt, sie gehen unter die Haut. Das gilt auch für Bilder des Grauens. Die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh hat sich im Stern der Woche 25. September damit auseinandergesetzt und darüber geschrieben, wie sie persönlich mit solchen Bildern umgeht.
Als Beispiel nennt sie die Videos von Exekutionen durch die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), die im Internet kursieren. Die Augen zu schließen, so die 40-Jährige, sei „eine Form der visuellen Notwehr“. Wegschauen, so Zeh, sei das Gebot der Stunde, um sich nicht mit den Tätern gemein zu machen. „Indem wir hingucken, unterstützen wir die Terroristen. Denn sie wollen, dass wir sehen“.
Zeh führt dann eine andere Sichtweise an: Der Kriegsreporter Christoph Bangert hat einen Fotoband „War Porn“ herausgebracht mit Fotos aus den Kriegsregionen dieser Welt – ein Bildband des Grauens. Es sei die ethische Pflicht, so der Fotograf, die Bilder zu betrachten und Anteil am Leiden der Menschen zu nehmen.
Die Hemmschwelle sinkt. Was berührt uns überhaupt noch?
Was denken Sie? Was sind Ihre Erfahrungen mit solchen Bildern?
Tatsache ist, dass die Hemmschwelle sinkt, je krasser die Bilder sind, die man betrachtet. Was vor 20, 30 Jahren gar nicht veröffentlicht wurde, flimmert heute fast täglich über die Bildschirme, etwa wenn leidende, weinende, hungernde Menschen frontal abgelichtet werden.
Als der Verdacht aufkam, dass der syrische Staatspräsident Assad Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, veröffentlichte der Spiegel Fotos der Leichname syrischer Kinder, die durch das Giftgas getötet wurden. Ich weiß noch genau, wie geschockt ich war, als ich das Magazin in die Hand nahm und wie es mich drängte, Partei zu ergreifen.
Jedes Jahr stellt der Verlag Gruner + Jahr in der Ausstellung „World Press Photos“ die „besten Pressefotos des Jahres“ aus. Und jedes Jahr, so mein Eindruck, sind die Bilder ein bisschen schlimmer und dramatischer. Sind wir durch die permanente visuelle Konfrontation mit dem Leiden so abgestumpft, dass es immer stärkere Reize geben muss, damit wir überhaupt noch reagieren?
Hat Juli Zeh also recht, wenn sie behauptet, dass wir quasi mitverantwortlich für das Leiden sind, wenn wir solche Bilder wie im Museum betrachten, womöglich ohne uns Gedanken darüber zu machen, was die betreffenden Menschen durchmachen? Jeder Einzelne, der tagtäglich Medien konsumiert, muss darauf für sich eine Antwort finden.
Vielleicht beginnt die Gewalt ja schon dort, wo wir gleichgültig gegenüber Gewaltanwendung sind, wo wir uns, etwa wenn wir Bilder von Krieg und Brutalität sehen, nicht distanzieren, wo sich kein Protest regt, keine menschlichen Gefühle wie Mitleid und Barmherzigkeit aufkommen.
Mit welcher Motivation betrachte ich die Bilder?
Es kommt auf unsere innere Haltung, auf unsere Motivation an, mit der wir Bilder anschauen. Das heißt, wir brauchen Achtsamkeit und müssen uns selbst erforschen. Klicken wir einfach nur im Internet herum, um uns zu zerstreuen? Reagieren wir innerlich überhaupt auf das, was wir sehen? Lassen wir uns vom Schicksal der Menschen auf den Bildern innerlich berühren, nehmen wir Anteil an ihrem Leiden?
Bilder achtsam zu betrachten, heißt auch zu erkennen, wann der rechte Zeitpunkt für uns ist abzuschalten und wegzuschauen – sei es aus Selbstmitgefühl und um uns selbst zu schützen oder um die Greueltaten der IS-Terroristen und ihre Propaganda bewusst und entschieden zurückzuweisen.
Auf der anderen Seite wissen wir, dass Bilder aufrütteln können und dass es gut ist, wenn wir uns berühren lassen. Manche Bilder haben mich zu Tränen gerührt und sich in mein Gedächtnis eingebrannt, etwa die Fotos von den Opfern der Tschernobyl-Katastrophe des Fotofragen Robert Knoth – sehr persönliche und berührende Dokumente, die das Sterben durch Radioaktivität, Siechtum, Krankheiten und Missbildungen bei Kindern in den verseuchten Gebieten der Urkaine bezeugen.
Bilder können aufrütteln und uns motivieren, uns gegen Missstände zu engagieren. Es ist eine Frage der inneren Haltung und der Achtsamkeit.
Birgit Stratmann
Leben in Obdachlosigkeit – was empfinden Sie beim Betrachten dieses Bildes?
Ich frage mich auch immer wieder, wenn ich wegschaue oder die Nachrichten gar nicht erst anstelle, ob ich mich drücke. Aber ich stimme eher Juli Zeh zu. Ich nehme wahr, was in der Welt geschieht und ich schicke gute Wünsche für Frieden und Freiheit in die Welt, Wünsche für die Herrschr in dieser Welt, dass sie erkennen mögen, dass es um Verbundenheit, nicht um Krieg geht. (ich praktiziere buddh. Meditation). Und ich wende diese Wunschgebete auch in alltäglichen Situationen an. Das hat auf mich eine positive, kraftvolle Wirkung und auf mein Handeln im Umgang mit anderen.
Als “bestes Pressefoto” sollte ein Foto ausgezeichnet werden, das Verbundenheit der Menschen zeigt, sich nicht um Grenzen und Feindseligkeiten kümmert.
Die Bilder, die wir sehen, prägen unsere Sicht auf die Wirklichkeit. Die Flut der Bilder von Grausamkeiten, Brutalität, Entwürdigung von Menschen kann Gefühle von Hilflosikeit, Ohnmacht und ständig lauernder Bedrohung geweckt. Eine mögliche Reaktion darauf kann sein, sich abzuschotten, um die eigene Haut zu retten, sich nicht mehr mit dem Bedrohlichen konfrontieren. Und das passiert zunehmend, wir schotten die Grenzen zu Europa ab, wollen mit Drohnen das Angst-Machende bekämpfen und beschäftigen uns im Übrigen mit unseren inneren Angelegenheiten. Also lieber keine Nachrichten mehr schauen? Das kann keine Lösung sein. Natürlich ist es ist wichtig, die Augen vor der Wirklichkeit nicht zu verschließen. Es ist wichtig, sich zu informieren und Zusammenhänge zu verstehen.
In den Nachrichten wird allerdings immer nur eine Auswahl des Weltgeschehens gezeigt, die eindeutig die Schreckensmeldungen bevorzugt. Es wird ein Bild der Welt erstellt, in dem Krieg, Grausamkeit, Katastrophen, Bedrohung vorrangig sichtbar werden. Natürlich ist das in der Tat ein sehr wesentlicher Teil der Realität. Aber eben nur ein Teil. Auch in schlimmen Krisensituationen gibt es die Erfahrung von Mitmenschlichkeit, Solidarität und Mitgefühl. Wir dürfen uns durch die Bilder nicht dahin gehend abstumpfen lassen, dass wir die Sensibilität für diese positiven Erfahrungen verlieren.
Meiner Meinung gehören auch solche positiven Berichte in die Nachrichten-Sendungen. Fotojournalisten in den Krisengebieten sollen uns natürlich die Bilder der Brutalität nicht vorenthalten, aber sie sollten auch sensibel bleiben für die Bilder des Mitgefühls, der gegenseitigen Hilfe, der Mitmenschlichkeit, die sich vielleicht nur in kleinen Gesten, und wenig auffälligen Handlungen zeigen.
Das ist nicht beschönigend oder wirklichkeitsverfälschend, es ist eben auch Teil der Realität.
Solche Bilder könnten verhindern, dass wir uns zu stark auf die Sicht von Gewalt und Bedrohung fokussieren und damit den Raum dafür weiter öffnen. Wir gestalten auch durch unser Bewusstsein die Wirklichkeit mit und können durch unsere Art der Aufmerksamkeit und unsere Sichtweise auf die Welt verändernd wirken! Wenn in Nachrichten und Dokumentationen der Fokus auch auf Initiativen für Frieden und Mitmenschlichkeit gerichtet wird, werden diese Werte sichtbar gemacht. Das kann Mut machen und anregen, auch selbst in diesem Sinn aktiv zu werden.