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„Ich dachte, ich revolutioniere Schule“

Foto privat
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Ein Lehrer führt Achtsamkeit in der Schule ein

Adrian Bröking ist Lehrer mit Leib und Seele. Doch wie viele Kollegen wäre auch er fast an Stress und Überforderung gescheitert. Dann begegnete ihm die Achtsamkeit. Er praktizierte zunächst, um selbst gelassener zu werden. Heute bietet er Achtsamkeits-Trainings an seiner Schule in Berlin an und freut sich an seinem Beruf.

4 Uhr morgens aufstehen und an den Schreibtisch, um den Unterricht für den Tag vorzubereiten. Sechs Stunden als Lehrer vor der Klasse stehen. Nach Hause kommen, kurz verschnaufen, sich den eigenen Kindern widmen, Arbeiten korrigieren, Elterngespräche führen. So sah lange der Alltag aus, bevor Adrian Bröking mit Achtsamkeit in Berührung kam.

Das war vor etwa 10 Jahren. Heute ist er immer noch Lehrer mit Leidenschaft, aber anders. Denn das, was er in den ersten acht Berufsjahren gemacht hat, lässt sich auf Dauer kaum durchhalten.

Adrian entdeckte die Achtsamkeit für sich, führte sie in den nächsten Jahren in seiner Schule, dem Friedrich-Ebert-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf, ein und schuf so die Grundlage für eine persönliche Neuorientierung in seinem Beruf.

Perfekter Lehrer werden

Adrian wurde nach Abschluss der Schule zunächst Journalist. Lehrer zu werden, einen derart uncoolen Beruf zu ergreifen, kam für ihn zunächst nicht in Frage. So schlug er nach Beendigung der journalistischen Episode erst die wissenschaftliche Laufbahn ein, arbeitete und unterrichtete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in romanischer Sprachwissenschaft an den Universitäten Bremen und Potsdam und promovierte dort 2001.

Doch irgendwie fand er auch in der Wissenschaft keine Erfüllung. „Für mich war die Uni zu verkopft. Mir fehlte es an Tiefgang,“ resumiert er. „Ich hatte das Bedürfnis, mehr zu bewirken und irgendwann gestand ich mir dann ein, dass ich doch Lehrer werden wollte.“ So startete er 2001 sein Referendariat in Berlin.

Von dem, was er dort lernte, war er zunächst begeistert: “Man bekommt einen Werkzeugkasten didaktischer Methoden an die Hand, um jede Art von Lernstoff gut zu vermitteln, sozusagen das perfekte Handwerk für einen perfekten Unterricht.” Aber bald zeigte sich, dass das im Referendariat vermittelte Bild mit der Realität nicht übereinstimmte: Im Alltag kam eben kein perfekter Unterricht zustande, selbst wenn man die gelernten Variablen richtig aufeinander abstimmte.

Was, wenn die Vorbereitung nicht funktioniert? Wenn die Schülerinnen und Schüler gar nicht aufnahmebereit sind oder Sorgen von Zuhause mitbringen, wenn die Klassen riesig und heterogen sind? Langsam dämmerte ihm, dass im Lehrerdasein so viel mehr eine Rolle spielte als die bloße Vermittlung von Wissen.

Intuitiv spürte er, dass die Beziehungsebene, die so wichtig für das Lernen und Heranreifen junger Persönlichkeiten ist, zu wenig Raum bekam. Und all die Probleme, die damit zusammenhingen, wurden schweigend übergangen – bei der Ausbildung und im täglichen Schulbetrieb.

“Über Schwächen redet niemand“

Der Einstieg in den Lehrerberuf war ernüchternd. Adrian hatte ein Einserexamen gemacht, fand aber in Berlin zunächst keine feste Stelle. Stattdessen erntete er zynische Kommentare von Schulräten in Vorstellungsgesprächen. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit erhielt er einen Zweidrittelvertrag, mit der Verpflichtung, an zwei Schulen zu unterrichten.

Das ganze System schien unterfinanziert und auf Kante genäht. Die Ressourcen waren gering, die Ansprüche dafür enorm, ob im Kollegium, der Schulleitung, bei den Eltern oder bei sich selbst. “Alle wurschteteln sich irgendwie durch. Über Schwächen redete niemand”, so Adrian Bröking.

Nach ein paar Jahren im Hamsterrad entschied er sich, seine Unterrichtszeit von 26 auf 22 Stunden zu reduzieren. Dafür nahm er in Kauf, weniger zu verdienen. Der Unterricht lief gut, die Schüler waren begeistert. Und trotzdem nagten Zweifel an ihm. Wie kann ich in einer Klasse mit 32 Schülerinnen und Schülern allen gerecht werden? Wie kann ich im Kontakt mit den jungen Menschen bleiben, wenn ich das Curriculum durchpeitschen muss?

2011 kam dann der Wendepunkt. Nach acht Jahren als Lehrer steckte er in einer Krise. Er hatte mittlerweile zwei Kinder, 2005 und 2007 geboren, und fühlte sich zerrieben zwischen den unerfüllbaren Ansprüchen in Familie und Beruf. Der tägliche Frust, die Überforderung setzten ihm immer mehr zu. Schlafstörungen und eine Unzufriedenheit, die auch seine Umgebung erfasste, prägten den Alltag.

Schließlich machte seine Partnerin ihm klar: „Es geht so nicht weiter. Bitte finde etwas, was du nur für dich tust“. Kurz darauf stieß er beim Blättern in einem Heft „Geo-Wissen“ zum Thema Glück auf einen Artikel über Achtsamkeit. Das Thema elektrisierte ihn, und zwei Wochen später saß er in seinem ersten MBSR-Kurs.

“Du bist nicht Deine Gedanken”

Adrian hatte keine Ahnung, worauf er sich einließ und noch nie vorher etwas von Achtsamkeit gehört. Doch schon nach der ersten Stunde wusste er: „Das ist es! Der Ansatz, durch das bewusste Erleben des gegenwärtigen Moments ein Stück innere Freiheit zu gewinnen, leuchtete mir unmittelbar ein.“

Er praktizierte die achtsame Körperbetrachtung, Atemmeditation und Achtsamkeit im Alltag und fand das entlastend. Den Körper zu spüren, statt sich in Sorgen über den nächsten Schultag zu verfangen – das war eine praktische Anweisung, jederzeit anwendbar. Sich von Gefühlen und Gedanken zu distanzieren, statt sich von ihnen beherrschen zu lassen – das stärkte seine Resilienz, gerade in schwierigen Situationen.

„Vor allem ein Satz verblüffte mich gleich zu Beginn“, so Adrian begeistert. „Du bist nicht deine Gedanken“. Gedanken entstehen und vergehen, mehr nicht. Sie schaffen Realität, wenn man an ihnen festhält. Lässt man sie jedoch ziehen, ist man innerlich freier. Und das war im Schulstress ungemein wichtig. „Die Relativierung ist so entlastend“, fasst er zusammen. Und das fand auch seine Familie. Er wurde zunehmend ausgeglichener, weniger gestresst, war besser gelaunt.

„Ich schaffe Raum und bin da“

Adrian wäre nicht Lehrer geworden, wenn er nicht das Verlangen hätte, seine Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Nach einem Jahr eigener Achtsamkeitspraxis wollte er das, was er für sich persönlich als so heilsam erfahren hatte, auch in seiner Schule einführen.

Er knüpfte Kontakte zum „Center for Mindful Learning“ (CML) in den USA, wo mit Jugendlichen gearbeitet wird, und zu Sabine Heggemann, die mit Mind the Music, dem Achtsamkeits-Ansatz des CML, an deutschen Schulen unterwegs war. Hier wurde das thematisiert, was Adrian schon lange am Herzen lag: Wie gestalte ich eine gute Beziehung zu den jungen Menschen, die mir anvertraut sind? Denn erst die Beziehung schafft ein gutes Lernfeld. Wie gebe ich Raum für Persönliches, für Emotionen und Sorgen?

Der Fokus hat sich für Adrian Bröking in den vergangenen Jahren verschoben: weg von der Vorstellung, perfekt unterrichten zu müssen, hin zu einer stärkeren Akzeptanz der Situation, so wie sie ist. „Ich schaffe Raum und bin da, alles andere zeigt sich“, so sieht es Adrian heute.

Natürlich bereitet er weiterhin seinen Unterricht vor, investiert aber weniger Zeit und plant nicht mehr jede Eventualität vor. Denn nur dann kann er in der Klasse wirklich präsent sein und auf das eingehen, was sich in einer Stunde gerade zeigt – etwa wenn Schüler abgelenkt, aggressiv oder verschlossen sind.

Besonders bei pubertierenden Jugendlichen kann ein starres Unterrichtskonzept eigentlich nie funktionieren. Auch die gerade so angesagte digitale Unterrichtstechnik hilft da nicht weiter, denkt Bröking. Die Achtsamkeit hat ihm dafür die Augen geöffnet. Er ist flexiber geworden, offener und entspannter, muss nicht mehr alles „unter Kontrolle“ haben. Nebenbei schafft er sein Unterrichtspensum besser.

Achtsamkeit im Unterricht

Im Jahr 2012 hat Adrian in seinen Klassen damit begonnen, den achtsamen Unterrichtsbeginn als Ritual einzuführen. Er selbst startet bewusst und präsent, schaut jeden kurz an und fühlt sich in die Situation ein. Die Stunde beginnt mit einigen Momenten der Stille, einer Atembeobachtung, einer Körperwahrnehmung, einem von den Schüler ausgewählten Lied. Diese erhalten so die Möglichkeit, sich zu sammeln und besser auf den Lernstoff zu konzentrieren.

Gleichzeitig beginnt er damit, Achtsamkeitstrainings in seinen Klassen anzubieten: über 6 bis 8 Wochen jeweils eine Stunde pro Woche. Atmen und Entspannen, Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Welt um uns herum, das Zusammenspiel von Gedanken und Emotionen und die bewusste Erzeugung positiver Wahrnehmungen sind einige der Inhalte in diesem Training.

Wer mehr will, für den bietet er einmal pro Woche klassenübergreifend eine Achtsamkeits-AG an. Dies ist eine offene Runde, in der gemeinsam geübt und geredet wird. Das achtsame Sprechen und Zuhören ist eine wichtige Praxis. Hier öffnet sich Raum, auch belastende Themen anzusprechen.

Und nicht zu vergessen gibt es zwei Mal pro Woche die „Achtsame Mittagspause“, ein Angebot für Kollegen und Schüler. All das hat Adrian aus eigener Initiative eingeführt und umgesetzt, mit den Eltern und dem Kollegium abgestimmt.

„Man braucht Gelassenheit“

Nach acht Jahren Achtsamkeitsarbeit ist er insgesamt mit dem Erreichten sehr zufrieden und stellt zugleich fest, dass er am Anfang zu viel wollte: „Ich war damals wie elektrisiert, dachte, ich revolutioniere Schule, weil in meinen Augen Achtsamkeit eine Antwort auf so viele Missstände bietet. Dann stellte ich aber fest, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen auf meine Aktivitäten einfach nur mit Schweigen reagierten“, schmunzelt Bröking.

Heute akzeptiert er, dass er mit seinen Angeboten nur einen Teil des neuzigköpfigen Kollegiums erreicht, und weiß, dass Missionieren kontraproduktiv ist. “Auf mich aufpassen, Geduld haben, gelassen bleiben, die Defizitfalle vermeiden und einfach nur dankbar sein für die Möglichkeiten, die ich an meiner Schule habe und für das Erreichte”. So lautet seine Devise heute.

Bröking ist davon überzeugt, dass Achtsamkeit und Schule wunderbar zusammenpassen. Zum einen stärkt die Praxis spürbar Aufmerksamkeit und Konzentration. Zum anderen gibt sie die in der Schule oft fehlenden wichtigen Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung. “Wer bin ich, wer will ich sein, wie komme ich in Kontakt mit mir selbst und finde meine innere Stimme?” Bei der Beantwortung solcher Fragen leistet Achtsamkeit wertvolle Hilfe.

Achtsamkeit hift, die Selbstwirksamkeit zu stärken, Emotionen zu regulieren und Resilienz aufzubauen – bei Schülern wie auch bei Lehrern. “Deswegen hoffe ich, dass Achtsamkeit in zehn Jahren fester Bestandteil des Curriculums in der Regelschule ist.“

Birgit Stratmann

Adrian Bröking betreibt einen eigenen Blog

Mehr Infos und Kursangebote zum Thema Achtsamkeit und Empathie in der Pädagogik gibt es beim AVE Institut in Berlin. Website des AVE Instituts

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Liebe Frau Stratmann, vielen Dank für diesen sehr schönen und wertvollen Bericht. Ich bin davon überzeugt, dass das so wichtige und wunderbare Thema Achtsamkeit in Zukunft fester Bestandteil an unseren Schulen sein wird. Herzliche Grüße, Ruth Plege

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