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“Ich kann nicht der Richter meines Vaters sein”

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Manfred von Richthofen war ein deutscher Offizier und Jagdflieger im Ersten Weltkrieg |
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Interview mit Dieprand von Richthofen

Die Familie Dieprand von Richthofens ist eine der wenigen, die sich mit der Geschichte ihrer Vorfahren im Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Von Richthofen spricht im Interview über Soldaten in seiner Familie, Schuld und Verantwortung, aber auch die innere Aussöhnung mit seinem Vater.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Was hat Sie motiviert, sich mit der Geschichte Ihrer Familie im Dritten Reich auseinanderzusetzen?

Richthofen: Schon in der Schulzeit begann meine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Schon damals ist mir klar geworden, dass es zu meinen persönlichen Aufgaben und den Aufgaben meiner Generation gehört, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Die Generation unserer Väter hat meist über das, was sie erlebt hatten, meist geschwiegen.

Als Leiter einer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, die Beamte des Landes Nordrhein-Westfalen ausbildete, habe ich eine Ausstellung über Beamte im Dritten Reich initiiert. Ohne Beamte und deren Loyalität und Pflichterfüllung hätte der Nationalsozialismus seine barbarischen Ziele nicht umsetzen können.

Auch in unserer Familie war die Rolle unserer Vorfahren im Dritten Reich immer wieder ein Thema. 2012 kam die gesamte Familie zusammen. Wir haben ein Brainstorming darüber gemacht, was gegenwärtig die Aufgabe unserer Familie ist. Wir wollten uns endlich mit der tabuisierten Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen.

Wir kamen überein, anhand von Beispielen aus unserer Familie unterschiedliche Lebensläufe vom Mitläufer bis zum Täter zu recherchieren. Wir wollten aus der damaligen Zeit heraus verstehen, warum jemand sich so oder so verhalten hat. Wir wollten auch daraus lernen und Verantwortung übernehmen.

Ich habe viele Anteile von meinem Vater in mir.

Wie wurde in Ihrem Elternhaus über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen?

Richthofen: Mein Großvater mütterlicherseits war Monarchist und Hitlerfeind, meine Mutter war kritisch. Mein Vater aber war Berufsoffizier, Kampfflieger, nach dem Vorbild des Kriegshelden Manfred von Richthofen, der im Ersten Weltkrieg als Jagdflieger „Der rote Baron“ populär wurde.

Mein Vater ist im Krieg gefallen. Da ich ohne Vater aufwuchs, suchte ich nach Vorbildern. In meiner Jugend hing immer ein Bild von Manfred von Richthofen in meinem Zimmer.

Als ich mit 14 Jahren zum ersten Mal das Buch „Der rote Kampfflieger“ gelesen hatte, war ich entsetzt, dass jemand sich freuen kann und stolz darauf ist, einen anderen abgeschossen zu haben. Dann habe ich das Bild von der Wand abgehängt. Das war meine erste Distanzierung.

Wie war der Umgang mit Ihrem Vater, den Sie gar nicht gekannt haben?

Richthofen: Es gab einige Botschaften meiner Mutter, wonach Tüchtigkeit oder Ehrgeiz, wie man heute sagen würde, wichtig sei. Das hat mich dann motiviert, in einigem so zu werden wie mein Vater. Im Übrigen war mein Vater eine Leerstelle. Weder hatte ich ein Vorbild noch einen Vater, von dem ich mich abgrenzen konnte.

Dieprand von Richthofen setzte sich intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinander. Foto: privat

In den 1968er Jahren hatte ich die Überzeugung, dass der Tod meines Vaters 1941 zu Beginn des Russlandfeldzuges sinnlos war, weil er für einen verbrecherischen Krieg gekämpft hat. Als ich für die Dokumentation unserer Familie das Lebensbild meines Vaters geschrieben habe, bin ich in Archive gegangen, habe seine Personalakte studiert und die Kriegsbriefe gelesen, die er an meine Mutter geschrieben hat.

Dabei habe ich gemerkt: Erstens, ich habe viele Anteile von ihm. Und zweitens, ich kann nicht der Richter meines Vaters sein. Er ist in einer anderen Zeit aufgewachsen, in der die Kriegsziele nicht hinterfragt wurden und Befehl und Gehorsam selbstverständlich waren.

Ich bin zu der Auffassung gekommen, dass es Zeit ist, auch in der Familie die gefallenen Soldaten zu würdigen, denn sie haben ihr Leben gegeben und waren der Meinung, dass sie für Vaterland und Familie kämpften. Deshalb sollten wir ihnen heute mit Respekt begegnen.

Auf der anderen Seite habe ich die Kriegsbriefe meines Vaters kritisch gelesen. Da gibt es manche Dinge, die mich befremdet haben, wenn er sich zum Beispiel gefreut hat, einen anderen Flieger abzuschießen oder aus der Luft einen LKW von Bodentruppen der Gegner abzuschießen.

Aber ich habe auch entdeckt, dass ich die destruktiven Anteile, die im Krieg mit Orden belohnt werden, auch in mir habe. Denn in adligen Familien gingen über Jahrhunderte Soldaten an die Front.

Ich bin froh, dass ich in einer Zeit aufgewachsen bin und einen Beruf gewählt habe, in dem ich meine kämpferischen Anteile für zivile Ziele einsetzen konnte, zum Beispiel zur Reform einer Hochschule, was nur gegen Widerstände möglich war. Insofern hat die Auseinandersetzung mit meinem Vater auch zu einem Bewusstseinsprozess geführt und ich habe mich mit ihm ausgesöhnt.

Wolfram von Richthofen hat Kriegsverbrechen begangen.

Es kling provokativ, die Soldaten zu würdigen, die in den Krieg gezogen sind und auch Verbrechen begangen haben.

Richthofen: Ja, wir haben auch einen Täter unter den 20 dargestellten Lebensbildern unserer Familie. Das war Wolfram von Richthofen, der Chef des Stabes der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg war. Er war verantwortlich für den Einsatz der Legion Condor beim Angriff auf Guernica.

Am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs hat er die polnische Kleinstadt Wielun in Schutt und Asche gebombt, ohne dass dort irgendwelche militärischen Verbände waren – einfach nur, um die Luftwaffe auszuprobieren. Das Bombardieren der Zivilbevölkerung hat er in Warschau, Rotterdam und Stalingrad wiederholt.

Wir haben ein völkerrechtliches Gutachten eingeholt, das zu dem Ergebnis kam, dass diese Angriffe nach damaligen Kriegsvölkerrecht Kriegsverbrechen waren. Dieses Gutachten und das kritisch differenzierte Lebensbild haben wir in unsere Dokumentation aufgenommen.

Das stieß auf Schwierigkeiten, weil seine Tochter noch lebt. Sie wollte nicht, dass die Erinnerungen an ihren Vater durch Begriffe wie Schuld entwertet würden. Natürlich spielten bei ihr auch Gefühle der Scham eine Rolle.

Sie hat dann einen Beitrag für unsere Dokumentation geschrieben, in dem sie von ihrer großen Ambivalenz als liebende Tochter und als sich fremdschämende Tochter berichtet.

Bei der Aufarbeitung ging es uns nicht um Schuld, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen.

Was hat diese Beschäftigung mit den Geschichten in Ihrer Familie bei Ihnen bewirkt?

Richthofen: Bei unserer Auseinandersetzung ging es uns nicht vorrangig um Schuld, sondern wir wollten daraus lernen und Verantwortung übernehmen. Das ist auch ein persönliches Anliegen von mir. Meine Söhne und ich waren in Guernica und haben mit Überlebenden gesprochen. Zum Schluss sagten diese: „Kommen Sie doch bald wieder“. Es war eindrucksvoll, in Guernica zu erleben, wie aus einer Stadt der Opfer heute eine Stadt des Friedens geworden ist, wo Friedenskonferenzen stattfinden.

Diese Gesten der Versöhnung sind für mich wichtig. Deshalb sind meine Frau und ich auch nach Wielun gefahren und haben an einer Gedenkfeier zum 75. Jahrestages des Bombardements teilgenommen. Wir wollten Anteil nehmen am Leid der Menschen, die damals durch ein Mitglied unserer Familie umgekommen sind. Uns wurde die Hand zur Versöhnung gereicht, die haben wir gerne angenommen.

Wie hat dieser Prozess Ihre Familie verändert?

Richthofen: Das Besondere an unserer Familie ist vielleicht, dass die intensive Beschäftigung mit unseren Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus überhaupt stattfinden konnte. Der Historiker Stephan Malinowski sagte mir, ihm seien nur sehr wenige Fälle bekannt, bei denen dies möglich war.

Dahinter steckt natürlich die Angst vor Scham. Das ist ein tabuisiertes Gefühl. In unserer Familie war offensichtlich eine Offenheit und fast alle haben an dem Familientag teilgenommen, auf dem wir über die dokumentierten Lebensbilder gesprochen haben.

Dort haben wir einen geschützten Raum geschaffen und uns in vier Arbeitsgruppen und im Plenum ausgetauscht, wo auch persönliche und emotionale Zeugnisse möglich waren.

Die christlich religiöse Orientierung spielt auch bis heute noch eine Rolle in unserer Familie. Man könnte sagen, während einer gemeinsamen Andacht wurde uns auch bewusst, wir können es nicht allein schaffen, wir müssen auf Gottes Hilfe vertrauen. Manche Schuld kann auch nur Gott vergeben.

Notwendig ist der Mut zur Ambivalenz.

In adligen Familien wurde die militärische Offizierslaufbahn als ehrenvoll angesehen. Wie erleben Sie das heute, wo wieder ein Krieg in Europa wütet?

Richthofen: Notwendig ist der Mut zur Ambivalenz. Einerseits war ich Mitglied der Friedensbewegung, habe mich Friedensdemonstrationen angeschlossen. Andererseits habe ich als Reserveoffizier bei der Bundeswehr gedient.

Heute gibt es in unserer Familie nur noch zwei Berufsoffiziere. Deren Einsatz respektiere ich, denn in der Welt, mit dieser nach wie vor unsäglichen Neigung zu Gewalt und Krieg, müssen wir als Demokratie und Rechtsstaat wehrhaft sein. Deshalb brauchen wir auch eine Bundeswehr.

Zum Glück wird sie nicht mehr glorifiziert und der Militarismus ist Geschichte. Sie ist ja in den letzten Jahrzehnten vor allem für Friedenseinsätze bereit gewesen.

Aber jetzt, wo die Bedrohung durch den Ukrainekrieg nähergekommen ist, wären wir froh, wenn wir eine effektive Armee zur Landesverteidigung hätten. Aber ja, ich bin da ambivalent: Ich habe den friedlichen Anteil in mir und ich habe den realpolitischen Anteil in mir.

Dieprand von Richthofen (81) studierte nach dem Dienst bei der Bundeswehr Jura mit Promotion. Von 1971 bis 2007 arbeitete er im Landesdienst von Nordrhein-Westfalen, zunächst im Wissenschaftsministerium, dann 25 Jahre als Leiter der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, die er von einer Behörde zu einer modernen Hochschule weiterentwickelte.

Er wirkte zehn Jahre bei der Telefonseelsorge mit und war, auf der Grundlage einer Ausbildung in Logotherapie, nach seiner Pensionierung ehrenamtlich als Lebensberater tätig.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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