Mike Kauschke legt uns die Poesie ans Herz
Die Poesie hat die Kraft, unser Leben von innen her zu verwandeln, es zu verzaubern und Impulse für eine gesellschaftliche Transformation zu geben, das ist die Quintessenz des Buches von Mike Kauschke. In teils poetischer Sprache lädt er dazu ein, die Schönheit und Kostbarkeit jeden Moments wahrzunehmen und selbst schöpferisch zu sein.
Das Buch durchwebt ein hoher Anspruch an die Poesie, und man spürt das Herzensanliegen des Autors in jeder Zeile. Lässt man sich darauf ein, erfährt man die Wirkungen unmittelbar im eigenen Alltag: In die Welt hineinspürend, freut man sich über die Verbundenheit mit allem, seien es Menschen, Pflanzen oder die kleinen Dinge, die einem davor zuweilen das Leben schwer gemacht haben. Mit wohlwollenderem Blick und offenem Herzen entsteht dieser magische Wandel tatsächlich wie von ganz allein: „Alles ist da für mich“.
Mike Kauschke hat das Buch in der Überzeugung geschrieben, dass durch die inneren Veränderungen, die Poesie in uns auslösen kann, auch gesellschaftliche Probleme wie Gefühlslosigkeit, Apathie in ökologischen Fragen, soziale Kälte, politisierender Hass und politische Fantasielosigkeit gewandelt werden können.
Fast möchte man meinen, sie sei ein Allheilmittel, die Poesie. Der Autor spürt sie in vielfältigsten Lebensbereichen auf, sehnt ihr nach, betreibt sie und empfiehlt auch seinen Leserinnen und Lesern, im eigenen Leben mehr Poesie walten zu lassen zum Wohle der Welt und der Menschheit. Und deswegen ist es auch völlig schlüssig, dass er seine Leser am Ende auffordert, in seine Fußstapfen zu treten und Poet, Poetin zu werden, wenn sie es denn nicht schon sind.
Poesie ist hier sehr viel umfassender gefasst, Kauschke versteht darunter weit mehr als Gedichte. Er macht Poesie vielmehr zu einer lyrischen Lebenshaltung, einer innerlichen Herangehensweise an die Welt. Aus ihren Fähigkeiten, „unser inneres Geheimnis in Worte zu fassen“ hat Poesie nach Kauschke „die Kraft, unser Leben von innen her zu verwandeln, es zu verzaubern, zu poetisieren“.
Wach werden mit allem
In seinem Buch ist er zwölf Qualitäten des Poetischen auf der Spur: dem Geheimnis, dem Staunen, der Ehrfurcht, Berührung, Verletzlichkeit, Sehnsucht, Zugehörigkeit, Dankbarkeit, Verbundenheit, Kreativität, Verantwortlichkeit und dem Dialog. Jede dieser Qualitäten ist auf den 257 Seiten ein eigenes Kapitel gewidmet. So nähert man sich der Poesie mit dem Autor immer wieder aus etwas anderem Blickwinkel.
Mit Prousts „Recherche“, dessen Titel Kauschke bis auf ein Wort übernommen – und ‚Zeit‘ durch ‚Welt‘ ersetzt hat – teilt das Buch die minutiöse Beschreibung alltäglicher Begebenheiten, den Fokus auf Verinnerlichung und diesen leicht melancholischen Tonfall.
Durchgängig drei Erzählebenen bieten dem Leser einen intellektuellen, emotionalen oder unmittelbaren Zugang zur Poesie. Und diese Vielschichtigkeit ist sicher eine der Stärken des Buches. Es ermöglicht einem, sich der Poesie von seiner Lieblingsseite zu nähern und vielleicht über Passagen, die einem nicht so liegen, hinwegzusehen.
Auf einer analytischen Ebene mit wissenschaftlichen Querverweisen und Zitaten von Schriftstellern aller Kontinente wird Poesie beschreibend-interpretierend zu fassen versucht. Auf einer biografischen lässt uns der Autor an seinen reichhaltigen Lebenserfahrungen teilhaben und vermittelt eindrucksvoll, wie Poesie sein Leben leitet, ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Bereits seit seiner Jugend in Brandenburg beschäftigte sich der heutige Redaktionsleiter des Magazins ‚evolve’ mit poetischem Schreiben, praktizierte Zen-Buddhismus, erforschte eine integrale Spiritualität und war Krankenpfleger in der Palliativpflege und Hospizarbeit.
Doch vor allem veranschaulichen Gedichte zahlreicher prominenter Lyriker und vom Autoren selbst, welchen Zauber wohlgesetzte Worte auslösen können und im Leser etwas zum Klingen bringen, das sich durch Beschreibung allein nicht fassen lässt.
Werde wach mit allem/ Die Nähe wird weit/ Die Ferne ganz innig
Mike Kauschkes Buch spricht die leisen Seiten in uns an, das Horchen, das in Dialog treten mit dem Teil in uns, der öffnend bereit ist, sich verletzlich zu zeigen und das Mysterium Welt geschehen zu lassen. Dann entwickelt sich ein Zauber sowohl im Innen wie im Außen aus sich selbst heraus. In der Tradition von Ramana und Papaji könnte die Quintessenz – auf die kürzeste Formel gebracht – auch aus diesem Buch lauten: Sei still! Dann hat alle Suche ein Ende.
Anja Oeck
Mike Kauschke. Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens, Kamphausen media 2022