Ethische Alltagsfragen
In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield die Frage einer Mutter auf, die sich über die Instagram-Darstellung ihrer sorgt: “Ist es eine Täuschung, wenn meine Tochter geschönte Fotos von sich auf Instagram postet. Was macht der Zwang zur Selbstdarstellung mit ihr?
Frage: Meine Tochter ist 16 Jahre alt und auf Instagram aktiv. Die Bilder, die sie von sich postet, sind “bearbeitet”: Ihre Haut ist glatt, rosig, makellos. Ich bin manchmal perplex, wie anders sie aussieht, als wenn sie bei mir zu Hause am Küchentisch sitzt. Ist das nicht eine Täuschung, gar eine “Lüge”? Was macht dieser Zwang zur Selbstdarstellung mit jungen Menschen, besonders mit Frauen? Haben Sie einen Rat, was zu tun ist?
Jay Garfield: Das sind interessante Fragen in Bezug auf die sich schnell verändernde Online-Welt. Diese Welt ist für die Jungen ganz anders als für ältere Menschen, das sollten wir im Hinterkopf haben.
Zunächst würde ich vorschlagen, dass wir die eigene Online-Persona – und die Art und Weise, wie diese Persona in Text oder Bild dargestellt wird – als eine kreative Konstruktion betrachten.
Wenn man ein Foto, sei es von sich selbst oder von einem anderem, in den sozialen Medien wie Instagram hochlädt, so postet man ein Kunstwerk, nicht eine eidesstattliche Erklärung über sein Aussehen. Man fügt dem Foto auch keine Erklärung bei, die eine exakte Ähnlichkeit mit der eigenen Person bescheinigt. Und so können wir auch nicht davon ausgehen, dass die Bilder originalgetreut sind.
Es gibt Kontexte, in denen das, was Ihre Tochter tut, eine Täuschung darstellen würde, z. B. wenn sie das Foto verwenden würde, um sich für einen Reisepass oder einen Job als Model oder Schauspielerin zu bewerben. Hier wird eine exakte Darstellung ihrer körperlichen Erscheinung vorausgesetzt, und das ist entscheidend.
Das ist aber nicht das, was Instagram ausmacht. Es ist ein Raum für den Austausch von Kunstwerken. Und wenn man aus dem eigenen Bild Kunst machen will, ist das völlig in Ordnung.
Beachten Sie auch, dass das, was Ihre Tochter tut, dasselbe ist, was viele professionelle Fotografen tun, wenn sie ein schmeichelhaftes Porträt erstellen. Auch viele Maler würden ähnlich vorgehen. Ich würde dies nicht als Täuschung verurteilen.
Dennoch ist es wichtig, unseren Kindern die Prinzipien beizubringen, die das Leben im Internet bestimmen. Wir sollten sie auf die Gefahren aufmerksam machen, die der Austausch von Informationen im Internet mit sich bringt.
Sie sollten lernen, was der Unterschied zwischen Unterhaltung, Chat auf der einen und der Bereitstellung von Informationen auf der anderen Seite ist, auf die sich andere verlassen könnten.
Wir sollten ihnen erklären, dass es notwendig ist, nicht nur die eigene Privatsphäre und die eigenen Informationen zu schützen, sondern auch höflich und respektvoll gegenüber anderen zu sein.
Junge Frauen haben Druck, einem Ideal weiblicher Schönheit zu entsprechen
Es gibt noch ein zweites Problem, und das ist vielleicht noch wichtiger. Ihre Tochter postet diese bearbeiteten Fotos vielleicht als Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck, ein Ideal weiblicher Schönheit zu erreichen. Diese Normen und der damit verbundene Druck sind in unserer Kultur allgegenwärtig und schaden jungen Frauen ernsthaft.
Sie schaffen eine Nachfrage nach Kosmetika, führen zu Essstörungen und können zu Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen führen, wenn Mädchen und junge Frauen ihre ganze Energie darauf verwenden, diese künstlichen und unmöglichen Ideale zu erreichen und dann daran scheitern.
Dieser Druck erzeugt auch das Gefühl, dass die eigene körperliche Erscheinung definiert, wer man ist, und dass die Maßstäbe für die eigene Identität durch eine stark sexualisierte Ökonomie der äußeren Erscheinung/des Aussehens gesetzt werden.
Die Normen werden bestimmt von sehr spezifischen, ungewöhnlichen und oft unangepassten Körperbildern, und sie pathologisieren Normalität und Gesundheit. Sie lehren junge Frauen, ihren eigenen Wert aus ihrer Attraktivität herzuleiten; diese wiederum ist von einem ganz bestimmten, abnormalem Blick bestimmt.
Es könnte an der Zeit sein, mit Ihrer Tochter ein Gespräch über diesen Druck zu führen, woher er kommt, wie schädlich er ist und wie man ihm widerstehen kann. Es könnte hilfreich sein, die Quellen und den Inhalt dieses Drucks offenzulegen und sie zu fragen, wie sie ihn erlebt. Sie könnten gemeinsam besprechen, inwieweit es sich dabei um vernünftige Erwartungen handelt und welche Konsequenzen es hat, diese zu verinnerlichen oder sie ernst zu nehmen.
Wenn diese Themen offen gelegt und diskutiert werden, hilft es den Jugendlichen oft in mehrfacher Hinsicht: Erstens können sie sich der Kräfte bewusst werden, die ihr Verhalten antreiben. Zweitens gilt es, diese Kräfte zu bewerten und sich zu fragen, ob sie unter deren Einfluss stehen wollen.
Drittens lassen sich Strategien entwickeln, um dem Druck zu widerstehen, den sie als schädlich für sich selbst, als konträr zu ihren eigenen Werten oder als Verletzung ihrer eigenen Freiheit erkennen.
In so einem Gespräch sollte man keine Vorwürfe machen, sondern mit Einfühlung sprechen. Es ist gut anzuerkennen, welcher Druck da ist, der Ihre Tochter dazu bringen könnte, ihr Foto auf bestimmte Weise zu verändern.
Es könnte auch sinnvoll sein, diese Gespräche mit ihren Freundinnen und mit anderen Familien von jungen Menschen in ähnlichen Situationen zu führen oder die Schule zu bitten, sie zu initiieren.
Je mehr diese Themen diskutiert werden, desto mehr können Kinder das Bewusstsein und die Widerstandsfähigkeit entwickeln, die sie brauchen, um mit dem Internet integer und selbstbewusst umzugehen.
Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org
Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick