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Israel, die Hamas und der Teufel auf meiner Schulter

Anas Mohammed/ Shutterstock
Anas Mohammed/ Shutterstock

Ein Standpunkt von Charles Eisenstein

Die grausamen Attacken der Hamas auf israelische Zivilisten werfen die Frage auf, wie die Sicherheit für Israel und die palästinensische Bevölkerung dauerhaft gewährleistet werden kann. Der Kulturphilosoph und Pazifist Charles Eisenstein ist fassungslos angesichts der Gewalt. Er versucht, eine Antwort zu finden jenseits des Schemas von Gewalt und Rache.

 

Wir haben alles Mögliche versucht und nichts davon hat funktioniert. Jetzt müssen wir das Unmögliche versuchen.
Sun Ra


Angesichts der schrecklichen Grausamkeit des Hamas-Angriffs auf Israel und weil als Vergeltung ein noch viel größeres Gemetzel an der Bevölkerung im Gazastreifen zu erwarten ist, sollte eines für alle klar sein: Die Politik zweier Generationen von palästinensischen und israelischen Regierungen hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen wollten.

Unterdrückung, Ausgrenzung, Inhaftierung, Gewalt, Attentate, Mauern und Zäune haben Israel nicht sicher gemacht. Einige der Maßnahmen der palästinensischen Führung – nämlich Terrorismus und Gewalt – haben das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigen.

Es ist schwierig, etwas zu dieser Eskalation zu sagen, ohne dass jemand herauszulesen versucht, auf welcher Seite ich stehe. Glaube ich, dass die Angriffe der Hamas gerechtfertigt waren? Halte ich einen verheerenden israelischen Gegenangriff für gerechtfertigt? Wer ist im Recht und wer ist im Unrecht?

Diese Fragen kommen aus einer Denkweise, die die blutigen Kreisläufe der Rache fortsetzen und verstärken wird. Irgendwann müssen wir uns entscheiden: Wollen wir Rache, wollen wir, dass die Bösen bestraft und die Guten rehabilitiert werden?

Oder wollen wir, dass das Grauen aufhört? Das ist keine neutrale Haltung von „Beide haben recht“ (both-sides-ism) und auch keine „spirituelle Vermeidung“ (spiritual bypassing). Es ist eine praktische Entscheidung.

In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag auf der Plattform, die sich X nennt, die ich aber weiterhin Twitter nenne, äußert der Journalist Isaac Saul eine wichtige Einsicht:

„Ich glaube nicht, dass die Hamas Israelis tötet, um sich selbst zu befreien; ich glaube auch nicht, dass sie es tut, um Frieden zu schaffen. Sie tun dies, weil sie den Teufel auf der Schulter eines jeden unterdrückten Palästinensers repräsentieren, der in diesem Konflikt jemanden verloren hat. Sie tun es, weil sie sich rächen wollen.

Sie rechnen ab und folgen dem schlimmsten aller menschlichen Impulse, nämlich Blut mit Blut zu vergelten – eine Neigung, der man nach dem, was ihr Volk ertragen musste, leicht nachgeben kann. Es sollte nicht schwierig sein, ihre Logik zu verstehen. Es ist nur schwer zu akzeptieren, dass Menschen zu so etwas fähig sind. Die Hamas nicht zu verteidigen ist leicht. Und wir sollten damit aufhören.“

Fassungslosigkeit als angemessene Reaktion

Das ist erst einmal wahr und wichtig. Ich würde aber gern einen Schritt weiter gehen. Saul will damit sagen, dass die Frage, ob man die Hamas „verteidigt“ oder nicht, eine Ablenkung darstellt, die wir überwinden sollten. So oder so sind ihre Handlungen eindeutig nicht zu rechtfertigen.

Die Frage dreht sich darum, wer „verteidigt“ werden soll, wer im Recht ist, wer im Unrecht ist, wer das Recht auf seiner Seite hat, weil er ein „Recht hat, sich zu verteidigen“ oder ein „Recht, sich mit Waffengewalt gegen Unterdrückung zu wehren“ … All das führt zu denselben Denkweisen und Annahmen, die alle auf Rache basieren. Wer so unterscheidet, hat es leicht und weiß sofort, was zu tun ist, wie man reagieren muss, wen man töten muss.

Ich habe die letzten Tage damit verbracht, zu lesen und zuzuhören und die jüngsten Ereignisse von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten. Ich würde sagen, es geht um eine andere Art von Fragen, aber Fragen, die man nicht in Worte fassen kann. Es ist die unmittelbare, verzweifelte Ratlosigkeit in der Frage nach dem Wie und Warum. Was könnte Menschen dazu bringen, solche Dinge zu tun?

Diese Art des Hinterfragens versucht, die wahre Quelle des Schreckens zu verstehen, anstatt sich mit der falschen Ursache zufrieden zu geben: „Sie sind einfach nur böse“ oder „Sie sind von einer bösen Religion um den Verstand gebracht geworden“.

Klischees von wahr und falsch, Recht und Unrecht überwinden

Je mehr man über die Geschichte der Region weiß, die nicht nur bis zur Nakba von 1948 zurückreicht (die Vertreibung der Palästinenser bei der Gründung Israels), sondern über Tausende von Jahren der Vertreibung und des Völkermords am jüdischen Volk, desto weniger befriedigend ist die Pseudo-Erklärung des „Bösen“.

Begreift man das Ausmaß und die Komplexität der Situation, ist die erste und fruchtbarste Reaktion Fassungslosigkeit. Fassungslos zu sein drückt auch die Erkenntnis aus, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Die vertrauten Reaktionsmuster fallen in sich zusammen – und damit auch die eingefahrenen Geschichten und Klischees, auf denen sie beruhen:

Terroristen, die unschuldige Juden in dem unerbittlichen Vorhaben ermorden, Israel auszumerzen. Oder kolonisierende jüdische Siedler, die eine brutale Apartheidgesellschaft einsetzen und Araber als Bürger zweiter Klasse behandeln. Gut und Böse. Opfer, Täter und Retter. Es ist nicht so, dass diese Erzählungen nicht etwas Wahres in sich hätten. Sie zeigen etwas. Aber das, was sie auslassen, ist viel bedeutender.

Der Name des Teufels ist Rache

Die Fassungslosigkeit ist fruchtbar, denn sie ist ein Schritt weg vom reflexhaften Festhalten an den Dramen, die die Menschen immer und immer wieder in die Hölle gestürzt haben.

Der Teufel auf der Schulter, nicht nur jedes unterdrückten Palästinensers, sondern jedes Menschen, der Unrecht erlitten hat, sei es in der Politik, in der Ehe, am Arbeitsplatz oder in einer anderen Beziehung, spricht umso überzeugender, je tiefer die Kränkungen sind.

Ich habe auch einen auf meiner Schulter, auch wenn er nur flüstert, denn ich musste keine schweren Demütigungen erleiden. Ganz anders bei den Menschen im Heiligen Land. Nur wenige Orte auf der Erde haben diesem Teufel so viel Stoff für seine Ausbrüche gegeben.

Der Name dieses Teufels ist Rache. Sein Wohnsitz ist die Selbstgerechtigkeit. Und sein Erzfeind ist die Vergebung. Deshalb brauchen wir politisch Verantwortliche, die anerkennen, dass Eroberung als Formel für eine bessere Welt tragisch und unvermeidlich scheitern muss.

Wenn man zum Beispiel versäumt, die Leiden der Palästinenser einzubeziehen, wird es leicht, sich auf eine Seite zu schlagen. Eine verzweifelte Bevölkerung wie die im Gazastreifen, die seit zwei Generationen Gewalt und Demütigung erdulden muss, ist ein Brandherd, der nur darauf wartet, entzündet zu werden, wie der Journalist Chris Hedges erklärt:

„Was erwarten Israel oder die Weltgemeinschaft? Wie kann man 2,3 Millionen Menschen in Gaza, von denen die Hälfte arbeitslos ist, 16 Jahre lang in einem der am dichtesten besiedelten Flecken der Erde gefangen halten? Wie kann man das Leben seiner Bewohner, von denen die Hälfte Kinder sind, auf das Existenzminimum reduzieren und medizinische Grundversorgung, Lebensmittel, Wasser und Elektrizität drastisch einschränken? Wie kann man Kampfflugzeuge, Artilleriegeschosse, Drohnen, Raketen, Marinegeschütze und Infanterieeinheiten einsetzen, um wahllos unbewaffnete Zivilisten zu töten, ohne eine gewaltsame Antwort zu erwarten?“

Sicherheit suchen oder Rache nehmen?

In einem hochgradig aufgeladenen, polarisierten Umfeld kann man solche Sätze kaum als das lesen, was sie wirklich sind: eine Erklärung und keine Rechtfertigung. Im Gut-gegen-Böse-Denken stört jede Erklärung außer dem Bösen (oder einem Codewort dafür) das Narrativ, das es einfach macht zu wissen, was zu tun ist, wen man töten muss und wer „wir“ und „die anderen“ sind.

Wenn man erwähnt, dass Israel in diesem Jahr etwa 250 Palästinenser, darunter 47 Kinder, im Westjordanland getötet hat, werden das die meisten Menschen als Rechtfertigung für die Angriffe der Hamas hören. Aber es ist keine Rechtfertigung. Es ist jedoch eine Information, die unerlässlich ist, um zu verstehen, warum der Teufel auf der Schulter der Hamas-Terroristen so überzeugend war.

Derselbe Teufel schreit nun in die Ohren der Israelis. So wie die Hamas-Terroristen Taten begangen haben, die nicht zu Frieden oder Befreiung, sondern nur zu Rache führen, so steht auch Israel bei seiner Reaktion vor einer Wahl. Wird es Sicherheit suchen? Oder wird es Rache nehmen?

Es ist vielleicht nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass diese beiden Ziele im Widerspruch zueinander stehen. Wenn man Vergeltung übt und „den Feind einen Preis zahlen lässt“, ist man dann nicht sicherer? Sind Sie nicht noch sicherer, wenn die Rache Ihre Feinde völlig auslöscht? Nein. Denn die Rache schafft endlos viele neue Feinde und dadurch wird die dauerhafte Grundlage der „Sicherheit“ niemals wirklich sicher sein.

Das Schema von Gut und Böse

Die Kreisläufe der Rache stehen in direktem Zusammenhang mit dem Paradigma von Gut und Böse. Jede Gewalttat der eigenen Seite ist in dem von ihr aufrechterhaltenen Narrativ „gerechtfertigt“ und jede Gewalttat der anderen Seite ist “ungerechtfertigt”.

Eine gerechtfertigte Tat ist eine gute Tat. Eine ungerechtfertigte Tat ist eine böse Tat. Die andere Seite führt eine endlose Reihe von bösen Handlungen aus. Sie muss böse sein. Dieses Urteil trägt die ganze Kraft der Trauer und Wut in sich, die aus der Verletzung und Ermordung geliebter Menschen resultiert, und es zieht für seine Erklärungen alle Beweise und logischen Argumente heran, die der Intellekt aufbringen kann.

Ist die Identität der eigenen Seite als gut und der anderen Seite als böse erst einmal gefestigt, dann wird jede Tat gerechtfertigt, denn schließlich ist es ein Schlag des Guten gegen das Böse. Das ist eine Erklärung, durch die machthungrige Kräfte die öffentliche Trauer und Wut nicht nur auf Rache, sondern auf jeden Feind lenken, der ihrer eigenen Vorherrschaft im Wege steht.

So nutzten die Vereinigten Staaten die öffentliche Empörung über den 11. September für die Eroberung des Irak, obwohl dieses Land nichts mit dem Angriff zu tun hatte. Aber selbst, wenn dies der Fall gewesen wäre, was den USA eine „Rechtfertigung“ für ihre Invasion geliefert hätte, wären die Ergebnisse die gleichen gewesen: mehr Gewalt, mehr Terrorismus und weniger Sicherheit.

Den Wunsch loslassen, Rache zu üben

Der Philosoph Rene Girard bezeichnete Kreisläufe der Rache als die ursprüngliche soziale Krise. Sie ist älter als die Geschichte. Sie ist selbsterhaltend, da jeder Akt der Vergeltung Anlass zu weiterer Vergeltung gibt. Sie eskaliert von selbst, da jede Gräueltat die Fesseln der Zurückhaltung weiter lockert.

Girard beschrieb zwei mögliche Folgen. Die eine ist die Zerrüttung der Gesellschaft. Die zweite ist Aufhebung dieser Zerrüttung, indem die Wut und der Blutrausch der vergeltenden Gewalt auf einen Sündenbock oder eine entmenschlichte Unterklasse von Opfern gelenkt werden, die nicht die Mittel haben, Rache zu üben.

Es gibt jedoch noch eine dritte Möglichkeit. Jede Partei kann den eskalierenden Kreislauf der Rache durchbrechen, indem sie sich einfach weigert, an ihm teilzunehmen. Das ist mit Vergebung gemeint – es bedeutet das Loslassen des Wunsches und der Absicht, dass diejenigen, die einem Unrecht angetan haben, leiden sollen.

Die abgeschwächte Form der Vergebung ist Zurückhaltung, Abstand zu nehmen. Sie tun anderen etwas weniger Schaden an, als der Teufel auf Ihrer Schulter verlangt. Zurückhaltung hält die Gewalt auf einem überschaubaren Niveau. Zurückhaltung verstärkt sich auch selbst, da eine solche Reaktion das Narrativ der anderen Seite aushungert, dass Ihre Seite rein böse ist – dieses Narrativ würde nämlich uneingeschränkte Gewalt Ihrerseits erfordern.

Erste Schritte zur Deeskalation

Vergebung ist noch viel kraftvoller. Stellen Sie sich das Echo vor, wenn Israel sagen würde: „Unser Wunsch nach Rache ist stark, aber noch stärker ist unser Wunsch, den Kreislauf der Gewalt im Heiligen Land zu stoppen.“ Dann würden sie für einen Plan plädieren (der mir von William Stranger vorgeschlagen wurde), der folgendermaßen aussieht:

(1) Die sofortige Einstellung aller militärischen Operationen durch alle Seiten;

(2) Die sofortige Aussetzung der Regierungen des Gazastreifens und des Westjordanlandes und ihre vorübergehende Ersetzung durch eine neutrale Internationale Regierungs- und Friedenstruppe (IGPF). Diese wäre ermächtigt, weitere Angriffe auf Israel mit Gewalt zu verhindern und alle Militanten, die damit drohen, zu verhaften oder, wenn nötig, zu töten;

(3) Die unverzügliche Einberufung eines Sonderausschusses des UN-Sicherheitsrates, der den Auftrag hat, eine endgültige Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts gemäß der Resolution 1397 des UN-Sicherheitsrates (die Zwei-Staaten-Lösung) auszuhandeln;

(4) Die Wiederherstellung der Versorgung des Gazastreifens mit Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Strom, die vom IGPF kontrolliert und überwacht wird;

(5) Die Übergabe aller Geiseln und Gefangenen, die sowohl von Israel als auch von den Palästinensern festgehalten werden, in die vollständige Obhut der IGPF.

Typischerweise werden solche Vorschläge von Vertretern beider Seiten als „Schwäche zeigen“ abgetan. Doch niemand bezweifelt ernsthaft, dass Israel in der Lage ist, den Gazastreifen in Schutt und Asche zu legen und jede lebende Seele in diesem Gebiet zu töten, wenn es sich dazu entschließt.

Immerhin verfügt Israel über mindestens 100 Atomsprengköpfe. Über die Zurückhaltung hinauszugehen und den Kreislauf der Rache zu stoppen, würde nicht von Schwäche, sondern von heldenhaftem Mut zeugen.

Die Hamas-Terroristen haben mit ihren Anschlägen vom 7. Oktober 2023 gezeigt, wozu Menschen fähig sind, wenn sie die Fesseln der Zurückhaltung ablegen und die bestialischsten Triebe des Menschen entfesseln. Nun muss Israel zeigen, wie es reagiert.

Wenn auch Israel die Fesseln der Zurückhaltung lockert und das nächste Land dies tut und das nächste, dann werden die Gräueltaten eskalieren und den ganzen Planeten mit sich reißen. In einer Welt voller Atomwaffen wollen wir hoffen, dass sich jemand – irgendwo – für Zurückhaltung entscheidet.

Aus dem Englischen übersetzt und leicht gekürzt von Mike Kauschke

Foto: privat

Charles Eisenstein ist ein amerikanischer Kulturphilosoph, freier Schriftsteller und Vortragsredner. Er graduierte an der Yale University in Philosophie und Mathematik. Vertiefte Studien in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte sowie spiritueller Philosophie schlossen sich an. Er ist Vordenker der Occupy-Bewegung. Zu seiner Website

The English original can be found here

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Der rote Faden dieses Artikels ist der ständige Appell an die mitmenschliche Vernunft – vielleicht sogar an empathische Logik.
In Kreisen philosophischer Selbsterhöhung ließe ich mir das ja noch gefallen, aber unter der Flagge “Ethik” kann doch “heute” nur eine Bündelung von Führungspersönlichkeiten erfolgreich agieren, die glaubwürdig auftritt, und sich Kompetenz jenseits kultureller Gepflogenheiten zuordnen kann. Das aller Fatalste in der Debattenkultur sind demgegenüber die Argumentationen, die auf breites Kopfnicken, statt auf geduldige Bezugnahmen des nicht zur Disposition stellbaren kausalen Universums abzielen. Bei “Ethik heute” besteht schnell Konsens darüber, was dem Individuum guttut. Die gleichen kausal verstehbaren Gesetzmäßigkeiten haben auch Gültigkeit, wollte man die Lösungen zusammentragen, die für ganze Kulturkreise politisch zielführend sind. Da zählen keine Meinungen, keine demokratisch determinierten Beschlüsse, sondern ausschließlich akkumulierte Bestätigungen der Gesetzmäßigkeiten, die hinter den “Schicksalen” verursachend im Spiel sind.
Wer nicht sammelt, der zerstreut!

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