Kampf für die Demokratie in Israel
Die israelische Armee soll den Staat Israel schützen und ist bekannt für ihr brachiales Vorgehen in den besetzten Gebieten. Doch in der Armee regen sich auch Stimmen, die für Demokratie und Menschenrechte einstehen. So boykottierten Reservisten im Frühjahr 2023 den Dienst, um gegen die Justizreform zu protestieren.
„Die wirkungsvollste Maßnahme, die ich ergreifen kann, ist mitzuprotestieren, anstatt mich zu meiner Fliegerstaffel aufzumachen“, sagte ein Israeli Mitte März 2023 gegenüber den Medien. Er war einer von über 250 Reservisten der Luftwaffe, die ankündigten, bei Übungen nicht zu erscheinen.
Tage zuvor hatten bereits 650 Reservisten aus Aufklärungs- und Geheimdiensteinheiten dem Verteidigungsminister und dem Oberbefehlshaber ihren Dienstboykott angesichts der geplanten Justizreform der Ende 2022 gewählten rechts-religiösen Regierung erklärt. Circa 50.000 Gleichgesinnte sollen außerdem in WhatsApp-Gruppen wie “Brothers in Arms” oder “Sisters in Arms” organisiert sein.
Derzeit verfügt Israel über gut 450.000 Reservisten; das sind dreimal so viel wie aktive Soldaten. Experten sprechen von der ernstesten Sicherheitskrise seit dem Yom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren. Diese Krise scheint auch ein Grund zu sein, warum die Regierung Netanyahu die umstrittene Reform erst einmal auf Eis legte.
Es ist nicht das erste Mal, dass Angehörige des israelischen Militärs ihren Unmut kundtun. Im März 2004 brachen Veteranen der israelischen IDF (engl. Kürzel für israelische Verteidigungsstreitkräfte) das Schweigen über ihren Dienst während der zweiten Intifada in der palästinensischen Stadt Hebron. Und sie sind auch heute noch aktiv, um mittels Ausstellungen, Vorträgen, Broschüren und Exkursionen „über die Realität und Wahrheit eines Alltags in den besetzten Gebieten“ zu informieren.
Mit ihrer Organisation, hebräisch Shovrim Shtika (Breaking the Silence,das Schweigen brechen) haben sie in den vergangenen 19 Jahren über 1.000 Zeugenaussagen von Soldaten “aller Schichten und fast aller Einheiten“ gesammelt und einen Großteil davon als Kurzvideo auf ihre Internetseite gestellt.
Die moralischste Armee der Welt?
„Soldaten, die in den (besetzten) Gebieten ihren Dienst verrichten, werden Zeugen und sind Teil militärischer Aktionen, wodurch sie durch und durch verändert werden. Misshandlungen von Palästinensern, Plünderung und Zerstörung von Eigentum sind seit Jahr und Tag die Norm, auch wenn sie von offizieller Seite als `extrem´ oder `Einzelfall“ dargestellt werden. Unsere Zeugenaussagen dagegen malen ein anderes, viel düstereres Bild (…).“(1)
Einer der Gründer der Organisation, der aus den USA nach Israel eingewanderte Yehuda Shaul, versicherte schon vor Jahren: „Ich bin im größten Mythos aufgewachsen, der da heißt: Die IDF ist die moralischste Armee der Welt.“(2)
Über seinen Einsatz von März 2001 bis März 2004 (davon 14 Monate in Hebron) im 50. Battalion der Nachal-Einheit bekennt er: „Wenn du als Soldat einen Schritt in die besetzten Gebiete machst, dann ist es, als ob du deine Moral in den Reißwolf wirfst – nach einer Minute ist nichts mehr davon übrig.”
Die Armee heißt auf Hebräisch Zava: Da klingen die himmlischen Heerscharen Zebaoth an. Die Abkürzung Zahal (Zava Hagana leIsrael) bedeutet “Heer zur Verteidigung Israels”. Dieses ging während des Unabhängigkeitskrieges 1948 aus den jüdischen Kampfgruppierungen Haganah, Palmach, Ezel und Lechi hervor.
Suizide von Armeeangehörigen
Die Armee gilt als die kampferfahrenste und schlagkräftigste des Nahen Ostens. Für die palästinensische Menschenrechtsorganisation PCHR aus Gaza-Stadt ist sie jedoch die IOF, die Israeli Occupation Forces, israelische Besatzungsstreitkräfte.
170.000 Männer und Frauen leisten Pflichtwehrdienst, erstere 32, letztere 24 Monate. Befreit sind arabische Muslime und Christen sowie ultraorthodoxe Juden, die sich dem Bibelstudium widmen.
Die Zava, angeblich Schmelztiegel sowie Integrationsbeschleuniger, dient oft als Sprungbrett in den Beruf, zumal des Politikers. Allein unter Israels Verteidigungsministern finden sich neun ehemalige Generalstabschefs.
Blinde Flecken der Armeeangehörigen wie verstärkte Neigung zu häuslicher Gewalt nach Dienst in den palästinensischen Gebieten, sexuelle Belästigung und Übergriffe sowie Suizid werden von den Medien des Landes weitgehend ausgeblendet.
Auf welche Weise Zehntausende einen Ausgleich zum Wehrdienst suchen, zeigte ZDF-Korrespondent Christian Sievers im Film Goa statt Gaza. Ausflippen bei Musik, Sex und Drogen sei dort in Indien Alltag.
2020 starben in Israel 28 Soldaten – neun davon durch Suizid, womit dieser die Haupttodesursache unter israelischen Soldaten darstellt. Im April überschrieb Gidi Weitz in der linksliberalen israelischen Ha´aretz seinen Kommentar: „Ehud Barak (früherer Verteidigungs- und Premierminister) hatte Recht, dass die Besatzung Israel von innen zersetzen würde.“
Angst vor der Diktatur
Zusätzlich zu Appellen, Petitionen und Aktionen von Reservisten- oder Veteranengruppen haben immer wieder Einzelne durch Dienstverweigerung ein Zeichen gesetzt. Laut Amnesty International kommen „jedes Jahr mehrere israelische Teenager ins Gefängnis, weil sie aus Gewissensgründen den Dienst in der Armee verweigern.“
Im vergangenen Jahr „wurden Einat Gerlitz, Nave Shabtay Levin, Evyatar Moshe Rubin, Shahar Schwartz und andere wegen ihrer Militärdienstverweigerung wiederholt inhaftiert.“ Die Haft dauert in der Regel einige Wochen, kann aber auch für fünf Monate oder länger verhängt werden. (3)
Aktuell erbittet Amnesty Unterstützung für den 20-jährigen Yuval Dag, der eine 20-tägige Haftstrafe im Militärgefängnis von Neve Tzedek verbüßt, nachdem er seiner Einberufung nicht gefolgt war. Für Amnesty ist Yuval Dag „ein gewaltloser politischer Gefangener und die israelischen Behörden müssen ihn umgehend und bedingungslos freilassen.“
Zu den samstäglichen, regierungskritischen Protesten seit Jahresbeginn sagt der junge, bärtige Mann: „In letzter Zeit sagen viele Reservisten, dass sie nicht in der Armee dienen wollen, weil sie Angst vor einer Diktatur haben. Das ist großartig und wichtig. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es in den besetzten Gebieten noch nie eine Demokratie gegeben hat. Und die antidemokratische Institution, die dort herrscht, ist die Armee.“
Johannes Zang, Jg. 1964, hat fast zehn Jahre in Israel und Palästina gelebt. Er ist Autor, sein aktuelles Buch heißt “Erlebnisse im Heiligen Land”, erschienen 2021 bei Promedia Wien. Zang betreibt einmal pro Monat den Podcast Jeru-Salam. Seit 2008 hat er über 60 Reisegruppen durch Israel, Palästina und Jordanien begleitet.
Quellen:
(1) https://www.breakingthesilence.org.il/testimonies/database
(2) Interviews mit Y. Shaul zwischen 2005 und 2008, Ost-Jerusalem, Beit Jala und Hebron