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„Jeder ältere Mensch braucht eine Aufgabe“

Foto: Kirsten Baumbusch
Foto: Kirsten Baumbusch

Interview mit Ursula Lehr

Die ehemalige Familienministerin Ursula Lehr, 87, hat wichtige Impulse für die Altersforschung gegeben. Im Interview spricht Lehr über ein zufriedenes Altern, Generationengerechtigkeit und wie wichtig es ist, sich immer wieder neue Ziele zu setzen. „Wer keine Aufgabe hat, gibt sich auf“, so ihr Fazit.

Prof. Ursula Lehr, geboren am 5. Juni 1930, ist eine renommierte deutsche Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Gerontologie und Psychologie. Von 1988 bis 1991 war sie Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. In dieser Funktion ließ sie den ersten deutschen Alternsbericht erstellen.

Lehr begründete das Institut für Gerontologie sowie das Deutsche Zentrum für Alternsforschung in Heidelberg. Von 2009 bis 2015 war sie Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO); noch heute hat sie den stellvertretenden Vorsitz inne. Zur Alternsforschung kam sie als junge Wissenschaftlerin. Ihre Ernennung zur Bundesministerin war für sie eine Überraschung.

Das Gespräch führte Kirsten Baumbusch

Wie kamen sie zum Ministeramt?

Lehr: Das war 1988 als Seiteneinsteigerin und völlig unerwartet. Schon vor Helmut Kohl hatte ich für das Bundeskanzleramt Expertisen erstellt, beispielsweise zum Thema „Älterwerden als Frau“. Auf einmal wurde ich ins Kanzleramt gebeten. Helmut Kohl sagte, da Rita Süssmuth nun Bundestagspräsidentin geworden sei, möchte er mir das Ministerium anvertrauen.

Um Gottes Willen dachte ich, was wird aus meinen Projekten in Heidelberg. Er wurde dann deutlicher und sagte, ich hätte doch immer gefordert, dass die Politik etwas für Senioren tun solle. Nun hätte ich die Chance und zögere. Das hat mich überzeugt.

War es ein schwieriger Einstieg?

Lehr: Ziemlich. Einmal hatte ich beispielsweise eine Kindergartenausstellung zu eröffnen, ließ mein geschriebenes Redemanuskript beiseite und machte mich stark dafür, dass schon Kinder ab zwei Jahren in den Kindergarten können sollten. Das sei zum einen wichtig für Alleinerziehende, argumentierte ich, zum anderen weil Kinder zur Entwicklung Kinder brauchen. Ich bekam Tausende von Protest-Briefen nach dem Motto „die Familienministerin macht die Familie kaputt“.

Wie haben sie das Thema Senioren eingebracht?

Lehr: Mir war klar, dass wir zunächst einen Bericht zur Situation älterer Menschen brauchen. Das brachte ich im Kabinett ein und stieß auf einigen Widerstand bei den älteren Kollegen. Es ging aber dann einstimmig durch den Bundestag. Mein Argument war, dass es bereits acht Jugend- und fünf Familienberichte gab. Als der Bericht dann entstanden war, wurde beschlossen, in jeder Legislaturperiode einen zu verfassen.

Das hat damals eine ganze Bevölkerungsgruppe erstmals ins Bewusstsein gerückt, oder?

Lehr: Stimmt; bis dahin, wurden alte Menschen nur als zu Betreuende und zu Unterstützende wahrgenommen, als eine homogene Gruppe, ohne Individualität. Das hat sich glücklicherweise sehr gewandelt.

Würde trotz Krankheit

Wann haben Sie sich selbst zum ersten Mal alt gefühlt?

Lehr: Als mein Sohn 65 Jahre alt wurde und drei Monate später mein zweiter Sohn 60. Zwei Söhne 60plus, dann muss die Mutter ja noch älter sein, dachte ich mir. Da habe ich mich echt alt gefühlt.

Wenn Sie diese Jahre der Pionierarbeit überblicken, hat sich das Bewusstsein von Alter in der Gesellschaft verändert?

Ursula Lehr beim Demografiegipfel 2017 mit Innenminister Thomas de Maiziere und Bundeskanzlerin Angela Merkel

Ursula Lehr beim Demografiegipfel 2017 mit Innenminister Thomas de Maiziere und Bundeskanzlerin Angela Merkel

Lehr: In den 1970er Jahren schrieb ich in einen Artikel „60+ eine homogene Restgruppe?“, denn damals war das in allen statistischen Jahrbüchern so aufgeführt. Selbst bei Erkrankungen war das nicht ausdifferenziert. Heute könnte man schreiben „80+ eine homogene Restgruppe?“. Das hat sich um mindestens 20 Jahre verschoben und wandelt sich immer noch. Allerdings sprach man früher von Langlebigkeit, das klang schön, heute spricht man von Hochaltrigkeit, das klingt irgendwie abwertend.

Sie verwenden den Begriff der „Würde des Alters“ ungern, was für ein Bild haben Sie?

Lehr: Ich war zunächst skeptisch. Nicht, weil wir alt sind, sind wir auch schon „würdig“. Jeder Mensch hat Würde hat, unabhängig von allem anderen, das steht im Grundgesetz. Aber beispielsweise die Demenzforschung hat den Fokus darauf gelenkt, dass es wichtig ist, immer die Persönlichkeit zu sehen, zu würdigen und sie wertzuschätzen. Würde trotz Krankheit!

Nie aufhören tätig zu sein

Was ist für Sie ein erstrebenswertes Ziel?

Lehr: Ein zufriedenes Altern. Das Schöne in meinem Fall ist, dass ich Dinge, für die ich gekämpft habe, doch noch entstehen sehe. Wie beispielsweise in unserer Pfarrgemeinde, als ich eine Kita für Kinder unter drei Jahren mit einweihen durfte. Das hatte ein bisschen etwas von Genugtuung. Oder auch die Flexibilität der Altersgrenze. Dafür hat sich die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie schon 1968 ausgesprochen.

Was kann man selbst zur Zufriedenheit beitragen?

Lehr: Immer eine Aufgabe haben, nie wirklich aufhören tätig zu sein. Ich kann das, was ich früher theoretisch erarbeitet habe, nun praktisch umgesetzt sehen. Ich bin regelmäßig beim Demografiegipfel, reise häufig nach Berlin.

Nun sind Sie Professorin und Politikerin, da fällt es sicher leichter, sich als selbstwirksam zu begreifen.

Lehr: Das stimmt, aber jeder Mensch braucht eine Aufgabe. Wer keine Aufgabe hat, gibt sich auf. Gerade schreibe ich an einem Gutachten über die Doktorarbeit einer Kölner Sportwissenschaftlerin. Sie weist nach, dass sich Menschen in dem Moment, in dem sie ins Heim kommen, weniger bewegen, weniger herumgehen, weniger tun – und dann auch die dementsprechenden Fähigkeiten dramatisch nachlassen. Die Forscherin empfiehlt, das Bild der Pflegebedürftigkeit zu differenzieren und den Einzelnen in Alltagspflichten einzubinden. Für Bewegung sorgen, das ist immer entscheidend.

Meine Generation hat eigentlich schon eine tolle Generation älterer Mensch als Vorbild, nämlich ihre Eltern – und trotzdem hängen wir diesen Idolen ewiger Jugendlichkeit an. Wie kommt das?

Lehr: Meine Jahrgänge hatten natürlich keine verklärte Jugend, in die wir uns zurücksehnen würden. Das hat uns abgehärtet. Das Älterwerden war auch ein Herausarbeiten aus diesen Zuständen.

Es scheint ein Generationenkonflikt heraufzudräuen angesichts der demografischen Entwicklung?

Lehr: Vorsicht, die Generationen wissen heute mehr denn je voneinander, es gibt kaum noch Tabus und alles ist viel offener in den Familien. Oft wird aber geschrieben von einem Konflikt zwischen den Generationen, der finanzieller Natur ist. Allerdings verkennen viele, dass derzeit immer noch deutlich mehr Güter und Finanzleistungen von alt zu jung als umgekehrt transferiert werden.

Generationengerechtigkeit heißt: Der nachfolgenden Generation soll es im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche nicht schlechter gehen als der jetzigen – bisher ist das noch so. Wie es weitergeht, ist schwer zu sagen. Aber eines ist sicher: Den Alten heute geht es besser als den Alten damals.

Mit Einschränkungen gut zurecht kommen

Was müsste denn die Gesellschaft leisten, um der demografischen Entwicklung zu begegnen?

Lehr: Der Staat könnte manches tun. Entscheidend ist, dass viele Menschen möglichst gesund altern und nicht pflegebedürftig werden. Wobei gesund sein nicht das Fehlen von Krankheit beinhaltet, sondern bedeutet, mit den Einschränkungen zurechtzukommen und dennoch ein zufriedenstellendes Leben zu führen.

Da kommt es oft auf die Haltung an, oder?

Lehr: In dem Moment, in dem ich das Label „pflegebedürftig“ bekomme, fühle ich mich auch so. Es ist wichtig, soweit selbstständig zu sein, wie es geht. Ich habe mich schon vor 30 Jahren gegen die kindliche Überfürsorge ausgesprochen, heute predige ich gegen die „Overprotection“ der alten Leute.

Wir als Senioren sollten Hilfe ablehnen, wenn wir das alleine noch schaffen. In ländlichen Gegenden hat früher der, der das Korn nicht mehr mähen konnte, dann eben die Gänse gehütet – das heißt, man wechselte von einer schwereren Aufgabe auf eine leichtere über, wurde aber noch gebraucht.

Ihr Motto heißt: sagen wir Ja zum Älter werden und machen wir das Beste draus.

Lehr: Klar, so ist das. Ich ärgere mich über „Anti-Aging“, da klingt Altern wie etwas schrecklich Schlechtes. Ich bin für „Pro-Aging“.

Was wünschen Sie sich, was man von Ihnen später einmal sagen soll?

Lehr: Wenn man sagen würde, sie hat das Alter lebenswert gemacht, dann wäre das schon sehr viel.

 

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