Ethische Alltagsfragen
In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” beantwortet der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Umgang mit kriminellen Jugendlichen: Was tue ich, wenn der Sohn einer langjährigen Freundin in Drogendealerei verwickelt ist?
Der Sohn einer langjährigen Freundin von mir ist 21 und hat keine Ausbildung. Er bezieht Sozialhilfe und handelt im größeren Stil mit Drogen. Von dem Geld konnte er sich schon ein Luxus-Auto leisten. Es ist unmöglich, mit ihm zu reden. Was soll ich tun? Ihn anzeigen, damit er lernt, sich sozial zu verhalten? Das wäre aber illoyal gegenüber meiner Freundin. Wie gehen wir damit um, wenn unsere Kinder auf die schiefe Bahn geraten?
Jay Garfield: Das sind einige der schmerzhaftesten Fragen, denen wir als Eltern und Freunde begegnen. Sie sind deshalb schwierig, weil anderen Menschen Schaden zugefügt wird, aber auch weil es einen Konflikt gibt zwischen unserer Loyalität gegenüber Familie und Freunden einerseits und unserer Verpflichtung, den Schaden für andere so gering wie möglich zu halten, andererseits.
Konfuzius spricht den hier beschriebenen Konflikt in seinen „Gesprächen“ („Analekten“) an, auch wenn ich seinen Vorschlag für sehr unbefriedigend halte. Darin wird ein Mann gerühmt, seinen Vater an die Behörden ausgeliefert zu haben, weil dieser ein Schaf gestohlen hat, und Konfuzius protestiert dagegen. Er argumentiert, dass man die Verpflichtung habe, seine Eltern und Kinder zu schützen (im Chinesischen meint dies „die Missetaten zu vertuschen”). Dem kann ich nicht zustimmen.
Dem ersten Anschein nach haben wir als Eltern und Freunde die Verpflichtung, unseren Nahestehenden zu helfen. Ohne diese Bindungen von besonderer Zuneigung und Sorge fällt die Gesellschaft auseinander; die unterstützenden Beziehungen, auf die wir uns verlassen, wenn wir Halt und Stärkung suchen, schwinden. Das wäre schlecht für uns alle und ist eine der Konsequenzen eines totalitären Polizeistaates. Also muss diese Verpflichtung irgendwie berücksichtigt werden.
Wenn jedoch der Sohn unseres Freundes einen Mord planen oder von Nachbarn stehlen würde, wäre klar, dass die Verpflichtung, andere vor Kriminalität und Gewalt zu behüten, mehr wiegt als die Verpflichtung, unsere Nahestehenden zu unterstützen. Dies ist eine Gratwanderung. Die Kunst besteht darin, das Gleichgewicht zu finden. In Ihrem Fall: Wenn Sie wissen, dass dieser Junge anderen wirklich schwerwiegenden Schaden zufügt, könnte das ausschlaggebend für Ihr Handeln sein.
Ich würde zunächst das Gespräch suchen und mit dem Protest (gegen die Vertuschung) beginnen. Gleichzeitig das Dilemma für den Jungen und seine Eltern aufzeigen und die Situation erklären, in die es Sie bringt. Drücken Sie klar Ihre Sorge für sein Wohlergehen aus, besonders für seine Sicherheit und Zukunft, aber auch für das Wohlergehen anderer. Wenn das keinen Erfolg hat, könnten Sie mit jemandem sprechen, der das Recht hat, die anderen vor ihm zu schützen, nicht aus Rache, sondern als Akt des Schutzes.
Wir schulden es unseren Kindern, alles Erdenkliche zu tun, um sie im Leben zu unterstützen. Aber das bedeutet nicht, sie zu befähigen, sich selbst oder anderen zu schaden. Und wir schulden es unseren Nachbarn und der Gesellschaft, zu deren Wohlergehen beizutragen, indem wir unsere Kinder so gut wir können, erziehen, sie aber auch vor unseren Kindern zu beschützen, wenn diese eine wirkliche Gefahr darstellen.
Jay Garfield, aus dem Englischen übersetzt von Anja Oeck
Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick