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Kann Atomenergie nachhaltig sein?

Mick Truyts/ Unsplash
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Ein Standpunkt von Nargis Silva

“Verharmlosung der Atomkraft” nennt die Autorin Nargis Silva die Entscheidung der EU-Kommission, Atomenergie als nachhaltig zu deklarieren. Der Begriff suggeriere Kontrolle einer nicht kontrollierbaren Technologie. Sie zitiert Günter Anders: „Der Mensch ist ein Riese im Herstellen und ein Zwerg im Vorstellen“.

Die EU-Kommission hat 2022 die Atomkraft als „nachhaltig“ eingestuft. Dieser Schritt hat vor allem in Deutschland und Österreich eine Empörungswelle ausgelöst. Österreich kündigte sogar an, rechtlich dagegen vorzugehen. Schließlich haben viele europäische Staaten in den letzten Jahren richtungsweisende politische Entscheidungen getroffen, um den Atom-Ausstieg voranzutreiben. Mit dem Beschluss verharmlosen die politischen Entscheider eine gefährliche Technologie.

Befürworter der Atomkraft führen gern an, dass diese im Vergleich zu fossilen Brennstoffen wie Erdöl und Erdgas nachhaltiger und mit weniger CO2-Ausstoß verbunden sei. Es kann angesichts von Krieg, Energiekrise und Inflation sinnvoll sein, Atomkraftwerke, die schon gebaut sind, mittelfristig weiterzubetreiben. Denn dann bräuchte man weniger Gas für Strom zu verbrauchen. Ein Ausweg aus der Energiekrise ist es jedoch nicht. In Anbetracht der Klimakrise kann die Atomenergie langfristig keinen Beitrag leisten, da sie zu langsam ausbaufähig, zu teuer und zu risikoreich ist.

Die zentrale Frage ist also: Will man die Klimakrise wirklich mit einer Hochrisikotechnologie bekämpfen, obwohl Alternativen wie die Erneuerbaren Energien zur Verfügung stehen? Und sind Atomkraftwerke sicher, wie Politiker so oft behaupten?

Das Bundesamt für Sicherheit wies im Juni 2022 darauf hin, dass Atomkraftwerke ein leichtes Ziel für terroristische oder militärische Angriffe sein könnten, weil diese „mindestens genauso verwundbar wie Gaspipelines“ sind. Angriffe auf kritische Infrastruktur sind eine neue Gefahrendimension.

Aber schon im Normalbetrieb bleibt das Restrisiko von Unfällen und menschlichem Versagen. Ein Atomunfall im dicht besiedelten Europa hätte katastrophale und unüberschaubare Folgen für Mensch und Natur. Dies sei „nie komplett ausgeschlossen“, so das Bundesamt.

Hinzu kommt, dass es hierzulande bisher kein Endlager für den Jahrmillionen radioaktiv strahlenden Atommüll gibt. Mit jedem Monat, jedem Jahr, in dem Atomkraftwerke weiterbetrieben werden, wächst der Müllberg, der das Leben zukünftiger Generationen bedroht.

Politische Rhetorik, die verharmlost

Was ist von einer politischen Rhetorik zu halten, die Atomkraft nachhaltig labelt und als harmlos deklariert? Kann man dieser Politik vertrauen?

Das Wort Verantwortung wird vom Verbum antworten abgeleitet. Damit ist Verantwortung das Antworten auf eine Frage. Sprache ist performativ. Das heißt, dass ein Sprechakt, ähnlich wie eine Handlung, Verantwortlichkeit und Umsicht erfordert.

Worte, unbedacht gewählt, können weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Sie können Menschen verletzen, diskriminieren oder ganze Kriege auslösen. Ohne sich der Verantwortung bewusst zu sein, die mit der Verwendung von einer Sprache einhergeht, schaffen Politiker, wenn sie Atomenergie als “nachhaltig” einstufen, ein Framing, das verharmlost. Weitere Beispiele aus dem Bereich der Atomenergie:

Erstens: „Notabschaltung“. Dieser Begriff erweckt den Eindruck, dass man mit Atomunfällen wie mit anderen Unfällen umgehen könnte. Im Notfall kann man Reaktoren zwar herunterfahren. Im Falle eines Super-GAUs jedoch würde das Abschalten der Anlage die Katastrophe nicht verhindern. Denn zu diesem Zeitpunkt sind die Reaktoren bereits geschmolzen und es kommt zu einer Kettenreaktion, die eine Kernschmelze auslösen würde.

Die scheinbare Kontrolle durch einen „Notfallknopf“ suggeriert, dass man Atomunfälle im Griff haben könnte, wie einen Wasserrohrbruch. Eine Kernschmelze hat jedoch unkontrollierbare Folgen, weil hochgiftige Strahlung in die Umwelt gelangt.

Zweitens: “Atommüll-Entsorgung”. Wie der Haushaltsabfall, der in der Tonne landet, so die sich aufdrängende Assoziation, kann man sich der Sorge des Atommülls einfach entledigen, indem man ihn „entsorgt“. Die Übertragung dieses Begriffs auf Atommüll ist massiv verharmlosend, weil es sich hier um hochgefährliches radioaktives Material handelt. Dieses kann zum Beispiel die menschliche Gesundheit angreifen, wenn radioaktive Partikel in Grundwasser oder Böden eindringen. Es kann Jahrmillionen und länger dauern, bis die radioaktive Strahlung abgebaut wird.

Drittens: “Endlagerung”. Das klingt nach einer endgültigen Lösung für das Atommüll-Problem. Betrachten wir aber nur die Halbwertszeit von Uran: Die Zeit, die es braucht, damit die Hälfte der Radioaktivität von U235 abgebaut wird, beträgt  708 Millionen Jahre.

Viertens: Klimaschutz: Atomenergie ist im Unterschied zu Erneuerbaren Energien keinesfalls CO2-neutral und daher weder grün noch nachhaltig. Vom Uranabbau über die Brennelementherstellung bis hin zur Lagerung wird ein hoher Energieaufwand betrieben, CO-2 Ausstoß inklusive.

Gefangen in den Blasen des technischen Narzissmus

Wie kommt diese verharmlosende Rhetorik zustande? Eine Antwort darauf bietet der Technikphilosoph Günther Anders (1902-1992). Seiner Ansicht nach haben Menschen mit der Atomenergie etwas erschaffen, das irgendwann größer wurde als sie selbst. Dahinter offenbare sich ein narzisstisches Motiv, das in der vorgeblichen Kontrollierbarkeit großtechnischer Apparate seinen Ausdruck findet und dazu führt, dass Sprache die Atomenergie verharmlost.

„Der Mensch ist größer und kleiner als er selbst“, schreibt Anders in seinem Werk „Die Antiquiertheit des Menschen, und habe deshalb eine Art „Apokalypsen-Blindheit“. Zwar könne der Mensch Dinge planen und ausführen, die größer sind als er selbst, etwa eine Atombombe oder ein Atomkraftwerk bauen.

Aber die Konsequenzen einer solchen Großtechnik vermag er nicht vollständig zu begreifen, weil ihm die Vorstellungskraft, und noch wichtiger, das Einfühlungsvermögen dafür fehlen: „Er ist ein Riese im Herstellen und ein Zwerg im Vorstellen“.

Durch Verstandeskraft und Vorstellungsgabe seien Menschen dazu in der Lage, sich einzureden, dass sie gefährlichen Großtechniken gewachsen seien; dass sie maximale Kontrolle über sie hätten. Mit dieser rhetorischen Verharmlosung können sie andere Dimensionen der Vorstellung unterdrücken, die nicht mit ihren Ideen der technischen Herstellungsmöglichkeiten übereinstimmen. Sie bleiben folglich in den Blasen des technischen Narzissmus gefangen, indem sie sich mittels verharmlosender Begriffe fortwährend das bestätigen, was sie sich ausmalen.

Doch statt sich besser zu fühlen, könnten die Menschen ihren Verstand auch dazu nutzen, sich vor Augen zu führen, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Wie wäre es, wenn wir unsere Fantasie in eine Richtung lenken, die es ermöglicht, den Gefahren, die von der Atomenergie ausgehen, emotional Rechnung zu tragen?

Dafür plädiert Horstmann Ulrich in seinem Buch „Abschreckungskunst. Zur Ehrenrettung der apokalyptischen Fantasie“ (erschienen 2012). Wir sollten, so Horstmann, mittels der Fantasie, die wir durch mediale Erzeugnisse wie Katastrophenfilme stimulieren, auch unser Gefühl anregen, um einen angemessenen Umgang mit der Atomenergie zu kultivieren und letztlich einen Sprachgebrauch zu finden, der der Sache gerecht wird. Denn wie über Atomkraft gesprochen wird, hat einen unmittelbaren Einfluss darauf, wie mit ihr umgegangen wird.

Foto: privat

Nagris Silva, geboren in Kiew, kam als Zehnjährige mit ihrer Familie, die aus Afghanistan stammt, nach Deutschland. Sie ist studierte Diplom-Ingenieurin und hat einen Masterabschluss in Philosophie. Sie arbeitet als freie Autorin und Lektorin für Lokalzeitungen und Unternehmen. 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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