Ethische Alltagsfragen
In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Pazifismus auf: “In Friedenszeiten Pazifist zu sein ist naheliegend. Doch mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat sich alles verändert. Ist die pazifistische Haltung heute noch moralisch vertretbar, vielleicht sogar naiv?”
Frage: Mit Beginn des Ukraniekriegs kam eine alte Frage wieder auf: Wie stehen wir zu Waffengewalt? In Friedenszeiten dem Pazifismus anzuhängen scheint einfach, vielleicht sogar naheliegend. Aufgewachsen mit den Erzählungen der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs könnte ich kaum mehr gegen Krieg und Waffengewalt sein. Doch ist diese Haltung angesichts eines Angriffskriegs moralisch noch vertretbar – und vielleicht sogar naiv?
Jay Garfield: Dies ist eine schwierige Frage, die mich seit der russischen Invasion in die Ukraine sehr beschäftigt und auch bewegt. Ich finde es hilfreich, hierzu Mahatma Gandhi zu lesen, der sich auf verschiedene Weise mit dem Thema Gewalt auseinandergesetzt hat.
Die meisten kennen Gandhi als einen konsequenten Verfechter der Gewaltlosigkeit. Aus einigen seiner Aussagen könnte man den Eindruck gewinnen, als ob es niemals erlaubt sei, einem anderen zu schaden. Aber es gibt auch Textstellen, in denen er nuancierter ist. In der Schrift “Between Cowardice and Violence” (Zwischen Feigheit und Gewalt) schreibt Gandhi:
“Ich glaube, dass ich dort, wo es nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt gibt, zur Gewalt raten würde. […] Mir wäre es lieber, Indien würde zu den Waffen greifen, um seine Ehre zu verteidigen, als dass es auf feige Weise zum hilflosen Zeugen seiner eigenen Unehrenhaftigkeit wird oder bleibt.
Aber ich glaube auch, dass die Gewaltlosigkeit der Gewalt unendlich überlegen ist, dass zu vergeben mannhafter ist als zu bestrafen. Vergebung schmückt einen Soldaten. […] Aber das Abstandnehmen von Gewalt kann nur dann Vergebung genannt werden, wenn man die Macht zur Bestrafung hat; sie ist bedeutungslos, wenn sie vorgibt, von einem hilflosen Geschöpf auszugehen.
Aber ich glaube nicht, dass Indien hilflos ist. Ich glaube nicht, dass ich eine hilflose Kreatur bin. Stärke kommt nicht von körperlicher Fähigkeit. Sie kommt von einem unbezwingbaren Willen.”
Gewalt anwenden, um Menschen zu schützen, nicht um zu bestrafen
Ich denke, dass diese Aussagen bedenkenswert sind. Wenn es möglich ist, sich der Gewalt gewaltlos zu widersetzen, ist das viel besser, als sich mit Gewalt zu wehren. Und wir sollten uns immer bemühen, Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Doch das ist nicht immer möglich. Indien hatte zu Gandhis Zeiten die Briten als Gegner, und diese hatten einen Sinn für Gerechtigkeit und Anstand, so sehr sie diesen Sinn in der Praxis auch verletzten; man konnte sich darauf berufen. Die Ukraine hat Putin als Gegner, und dieser hat nicht solchen Werte und ist bereit, Zivilisten zu ermorden, um seine Ziele zu erreichen.
Hier schließe ich mich also Gandhis Rat an: Wenn die einzige Möglichkeit, Unschuldige vor schrecklicher Gewalt zu schützen, darin besteht, sich mit Waffengewalt zu wehren oder die Opfer dabei zu unterstützen, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, sollten wir das tun. Entscheidend ist die Haltung: Wir tun dies, um den Menschen Schutz zu bieten und nicht, um den Gegner zu bestrafen.
Nicht aus Wut und Rachsucht handeln
Wie auch Gandhi betonen würde, muss unsere Motivation ganz klar sein: Wir schützen Unschuldige und handeln nicht aus Wut oder Feindseligkeit. Letzteres schadet uns nicht nur, sondern macht uns auch weniger effektiv. Getrieben von Hass treffen wir während einer militärischen Operation womöglich falsche Entscheidungen und auch in der Zeit danach, wenn der Konflikt gelöst werden muss und Versöhnung notwendig ist, kommen wir nicht weiter.
Zugegeben, es ist enorm schwierig, ohne Wut, Hass oder Rachsucht Gewalt anzuwenden oder andere darin zu unterstützen. Doch das Prinzip der Gewaltlosigkeit verlangt dies von uns, auch wenn die äußeren Umstände dazu zwingen, äußerlich Gewalt anzuwenden.
Wer mit der eigenen Einstellung und Motivation nicht vorsichtig umgeht, sinkt auf das Niveau seines Gegners. Dann wird Frieden unmöglich, sei es der innere Frieden oder der Frieden, den wir schaffen müssen, wenn wir die Waffen niedergelegt haben.
Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org
- Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick