Neu: Ethik Quiz – Testen Sie Ihr Wissen

Kann man heute noch Pazifist sein?

Donovan Rouse/ Unsplash
Donovan Rouse/ Unsplash

Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Pazifismus auf: “In Friedenszeiten Pazifist zu sein ist naheliegend. Doch mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat sich alles verändert. Ist die pazifistische Haltung heute noch moralisch vertretbar, vielleicht sogar naiv?”

Frage: Mit Beginn des Ukraniekriegs kam eine alte Frage wieder auf: Wie stehen wir zu Waffengewalt? In Friedenszeiten dem Pazifismus anzuhängen scheint einfach, vielleicht sogar naheliegend. Aufgewachsen mit den Erzählungen der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs könnte ich kaum mehr gegen Krieg und Waffengewalt sein. Doch ist diese Haltung angesichts eines Angriffskriegs moralisch noch vertretbar – und vielleicht sogar naiv?

Jay Garfield: Dies ist eine schwierige Frage, die mich seit der russischen Invasion in die Ukraine sehr beschäftigt und auch bewegt. Ich finde es hilfreich, hierzu Mahatma Gandhi zu lesen, der sich auf verschiedene Weise mit dem Thema Gewalt auseinandergesetzt hat.

Die meisten kennen Gandhi als einen konsequenten Verfechter der Gewaltlosigkeit. Aus einigen seiner Aussagen könnte man den Eindruck gewinnen, als ob es niemals erlaubt sei, einem anderen zu schaden. Aber es gibt auch Textstellen, in denen er nuancierter ist. In der SchriftBetween Cowardice and Violence” (Zwischen Feigheit und Gewalt) schreibt Gandhi:

“Ich glaube, dass ich dort, wo es nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt gibt, zur Gewalt raten würde. […] Mir wäre es lieber, Indien würde zu den Waffen greifen, um seine Ehre zu verteidigen, als dass es auf feige Weise zum hilflosen Zeugen seiner eigenen Unehrenhaftigkeit wird oder bleibt.

Aber ich glaube auch, dass die Gewaltlosigkeit der Gewalt unendlich überlegen ist, dass zu vergeben mannhafter ist als zu bestrafen. Vergebung schmückt einen Soldaten. [] Aber das Abstandnehmen von Gewalt kann nur dann Vergebung genannt werden, wenn man die Macht zur Bestrafung hat; sie ist bedeutungslos, wenn sie vorgibt, von einem hilflosen Geschöpf auszugehen.

Aber ich glaube nicht, dass Indien hilflos ist. Ich glaube nicht, dass ich eine hilflose Kreatur bin. Stärke kommt nicht von körperlicher Fähigkeit. Sie kommt von einem unbezwingbaren Willen.

Gewalt anwenden, um Menschen zu schützen, nicht um zu bestrafen

Ich denke, dass diese Aussagen bedenkenswert sind. Wenn es möglich ist, sich der Gewalt gewaltlos zu widersetzen, ist das viel besser, als sich mit Gewalt zu wehren. Und wir sollten uns immer bemühen, Konflikte gewaltfrei zu lösen.

Doch das ist nicht immer möglich. Indien hatte zu Gandhis Zeiten die Briten als Gegner, und diese hatten einen Sinn für Gerechtigkeit und Anstand, so sehr sie diesen Sinn in der Praxis auch verletzten; man konnte sich darauf berufen. Die Ukraine hat Putin als Gegner, und dieser hat nicht solchen Werte und ist bereit, Zivilisten zu ermorden, um seine Ziele zu erreichen.

Hier schließe ich mich also Gandhis Rat an: Wenn die einzige Möglichkeit, Unschuldige vor schrecklicher Gewalt zu schützen, darin besteht, sich mit Waffengewalt zu wehren oder die Opfer dabei zu unterstützen, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, sollten wir das tun. Entscheidend ist die Haltung: Wir tun dies, um den Menschen Schutz zu bieten und nicht, um den Gegner zu bestrafen.

Nicht aus Wut und Rachsucht handeln

Wie auch Gandhi betonen würde, muss unsere Motivation ganz klar sein: Wir schützen Unschuldige und handeln nicht aus Wut oder Feindseligkeit. Letzteres schadet uns nicht nur, sondern macht uns auch weniger effektiv. Getrieben von Hass treffen wir während einer militärischen Operation womöglich falsche Entscheidungen und auch in der Zeit danach, wenn der Konflikt gelöst werden muss und Versöhnung notwendig ist, kommen wir nicht weiter.

Zugegeben, es ist enorm schwierig, ohne Wut, Hass oder Rachsucht Gewalt anzuwenden oder andere darin zu unterstützen. Doch das Prinzip der Gewaltlosigkeit verlangt dies von uns, auch wenn die äußeren Umstände dazu zwingen, äußerlich Gewalt anzuwenden.

Wer mit der eigenen Einstellung und Motivation nicht vorsichtig umgeht, sinkt auf das Niveau seines Gegners. Dann wird Frieden unmöglich, sei es der innere Frieden oder der Frieden, den wir schaffen müssen, wenn wir die Waffen niedergelegt haben.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Amazonlieferung, Lieferservice, Amazon, eCommerce

Darf man bei Amazon einkaufen?

Ethische Alltagsfragen In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Einkaufen bei Amazon auf: „Ich kaufe viel bei Amazon. Aber ich weiß natürlich, welchen Schaden der Konzern anrichtet. Wie ist es moralisch zu beurteilen, bei Amazon einzukaufen? Wie viel Verantwortung habe ich als Einzelner?“
Foto: Italy Gariev/ Unsplash

Was tun gegen Sexismus am Arbeitsplatz?

Ethische Alltagsfrage In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Thema Sexismus am Arbeitsplatz auf: „Sexistische Bemerkungen, Berührungen ohne Zustimmung – was können Frauen am Arbeitsplatz tun, um Sexismus etwas entgegenzusetzen?“

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Foto: Lia Bekyan I Unsplash

Kinder mit Autismus willkommen heißen

Ein Gespräch mit Anja Wieclef* Anja Wieclef ist Mutter einer siebenjährigen Tochter mit frühkindlichem Autismus. Hier spricht sie über ihre Erfahrungen mit Kindern, die nicht ins Schema passen, über die Hürden bei der Inklusion, Erschöpfung und eine überraschend heilsame Erfahrung.
Getty Images/ Unsplash

„Politik muss Klimaschutz für alle ermöglichen“

Interview mit der Umweltpsychologin Katharina van Bronswijk Wie können wir gesellschaftliche Strukturen so verändern, dass ein nachhaltiges Leben für alle möglich wird? Klimaschützerin Katharina van Bronswijk erklärt im Interview, warum Menschen Verzicht schwer akzeptieren, wie wir positive Visionen und Ziele dagegensetzen und warum es reicht, wenn 10 bis 20 Prozent der Menschen beim Klimaschutz vorangehen.
Solen Feyissa/ Unsplash

Wie künstliche Intelligenz das Klima aufheizt

Energieverbrauch und Klimabilanz von KI Künstliche Intelligenz (KI) ist überall und der Energiehunger wächst mit jeder neuen Anwendung. Kommt der Strom nicht aus erneuerbaren Quellen, verschärft KI die Erderwärmung. Die Konzerne bereichern sich auf Kosten der Allgemeinheit.
George Dagerotip/ Unsplash

Wut willkommen heißen und begrenzen

Interview mit der Psychotherapeutin Susanne Kersig Wer sich überfordert fühlt, reagiert schnell mit Wut und Aggression. "Wichtig ist, nicht andere für unsere Wut verantwortlich zu machen,“ sagt die Therapeutin Susanne Kersig. Wir sollten die Wut willkommen heißen, achtsam schauen, welches Bedürfnis dahinter steht, und dies dann konstruktiv ausdrücken. So schützen wir uns und andere vor der destruktiven Kraft der Wut.