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Kann man zu viel Empathie haben?

Nina Strehl/ Unsplash
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield die Frage auf, wie viel Empathie verkraftbar ist: „Krankheit von Freunden, Kinderarmut, Flüchtlingselend – ich bin nicht in der Lage, all das mitzufühlen. Aber ohne Empathie kann ich andere kaum unterstützen. Was tun?“ Lesen Sie die überraschende Antwort.

Frage: Empathie ist eigentlich gut, um Anteil am Leiden anderer zu nehmen und moralisch zu handeln. Was aber macht es mit uns, wenn zu viel Negaivtes auf uns einströmt: Krankheit von Freunden, Kinderarmut, Flüchtlingskrise. Ich bin nicht in der Lage, all das mitzufühlen und mache dann dicht. Das fühlt sich wiederum auch nicht gut an, denn ohne Empathie kann ich andere kaum unterstützen. Was tun?

Jay Garfield: Dies ist eine gute und hochaktuelle Frage, und ich hoffe, dass meine Antwort Sie nicht zu sehr schockt. Ich denke, dass Empathie überbewertet wird und dass es wichtiger ist, sich auf die Fürsorge zu konzentrieren. Lassen Sie mich das erklären.

Das, was Empathie-Burnout genannt wird, ist angesichts der vielen Krisen in der Welt ein weit verbreitetes Phänomen und aus meiner Sicht ein Hindernis für ethisches Engagement. Als Beispiel möchte ich Ihnen von einer Begebenheit erzählen, die ich vor einigen Tagen erlebte:

Meine Frau hat sich bei einem Sturz das Handgelenk gebrochen. Wir waren im Krankenhaus. Bevor das Handgelenk in einen Gips kam, musste der Arzt ein Röntgenbild erstellen. Dafür musste er das Handgelenk in eine bestimmte Position bringen, was sehr schmerzhaft war. Mein Frau schrie mehrmals auf.

Während wir auf das Röntgenbild warteten, kam eine Krankenschwester herein und erklärte, warum sie bei der Prozedur nicht zugegen sein konnte. Sie erklärte, sie sei ein sehr einfühlsamer Mensch, und allein das Hören der Schreie aus dem anderen Zimmer würde ihr die Tränen in die Augen treiben. Daher sei es für sie zu viel, anwesend zu sein. Sie wollte meiner Frau versichern, dass sie ihren Schmerz spürte und hoffte, dass ihr Einfühlungsvermögen dieser helfen würde zu heilen.

Doch das Letzte, was meine Frau brauchte, war, dass eine zweite Person Schmerz empfand, während sie selbst so sehr litt. Und zu wissen, dass die Krankenschwester mitlitt, verschlimmerte nur das Leiden und trug nicht dazu bei, es zu lindern. Dies geschah durch den fürsorglichen Arzt, der in aller Ruhe und ohne Emotionen tat, was zu tun war und den Genesungsprozess einleitete. Fürsorge und kompetente Hilfe waren gefragt, nicht Empathie.

Ich hoffe, dass dieser Punkt klar ist. Auch wenn ein Moment der Empathie uns punktuell dazu motivieren kann, uns um andere zu kümmern und für sie zu sorgen, ist Empathie weder notwendig noch ausreichend für die Fürsoge. Sie kann sogar wirksames Handeln behindern. Außerdem führt sie, wie Sie sagen, zu einem Burnout und das ist lähmend.

Wir sollten mehr Fürsorge entwickeln, nicht mehr Empathie

Wenn wir mit Leiden oder moralisch schwerwiegenden Krisen konfrontiert sind, wie die Krankheit von Freunden, Kinderarmut oder Flüchtlingselend, sollten wir uns beherzt darum kümmern. Es sollte diese Sorge sollte, die uns motiviert, wirksam zu handeln.

Dabei müssen wir uns wie ein Arzt kümmern, der sich nicht von Emotionen leiten lässt und schon gar nicht den Schmerz seiner Patienten spürt, sondern sich leidenschaftlich um die ihm Anvertrauten kümmert und Abhilfe schafft.

Der buddhistische Philosoph Buddhaghosa (ca. 370-450) bezeichnet Fürsorge (karuṇā) als eine der wichtigsten moralischen Qualitäten, die wir kultivieren können. Damit ist die Fähigkeit gemeint, das Leiden anderer zu sehen und zum Anlass zu nehmen, es aktiv zu lindern. Dies geschieht auf der Basis des Verständnisses, dass kein Lebewesen Leiden erleben möchte.

Der Philosoph nennt für wichtige moralische Tugenden jeweils einen “fernen Feind” und einen “nahen Feind”. Der ferne Feind ist immer leicht als negativ zu erkennen. Die nahen Feinde sind gefährlicher, weil sie sich als Tugenden tarnen. Beide, die fernen und die nahen Feinde, hemmen die Tugend. Und beide sind in ihrer Grundhaltung egozentrisch, da sie unmittelbar auf das eigene Befinden oder das eigene Wohlbefinden abzielen.

Lassen Sie uns das am Beispiel der Fürsorge untersuchen. Fürsorge ist, wie alle echten Tugenden, nicht egozentrisch. Sie ist ganz auf das Leiden eines anderen gerichtet, ohne an sich selbst zu denken. Der große Feind der Fürsorge ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der anderen. Jeder kann erkennen, dass dies eine destruktive Haltung ist – genau das Gegenteil von Fürsorge. Und wir können sofort sehen, dass Gleichgültigkeit nicht nur die Fürsorge behindert, sondern auch egozentrisch ist.

Der nahe Feind ist, wie Sie vielleicht schon erraten haben, das, was oft als Mitleid bezeichnet wird; wir nennen es Empathie. Empathie ist ein Feind der Fürsorge, weil sie, wie wir gesehen haben, ein effektives Kümmern erschwert, aber auch weil sie egozentrisch ist.

Empathie bedeutet: Wir stellen uns selbst in den Mittelpunkt

Wenn wir eine empathische Haltung einnehmen, konzentrieren wir uns darauf, wie schrecklich wir selbst uns wegen des Leidens eines anderen fühlen, und nicht darauf, wie schrecklich die Betroffene sich fühlt.

Wir stellen uns selbst in den Mittelpunkt des moralischen Universums. Die Person, für die wir Mitleid empfinden, wird zu einem Grund für unsere eigenen Gefühle, anstatt ein eigenständiges Anliegen zu sein. Diese Haltung mag tugendhaft erscheinen, aber sie untergräbt in Wirklichkeit die Tugend, als die sie sich ausgibt.

Wir müssen uns bemühen, den Schmerz anderer nicht zu spüren, und zwar aus drei Gründen: Erstens, versetzt uns die Empathie nicht in die Lage, wie bei der oben erwähnten Krankenschwester, effektiv zu helfen und das Gute zu tun. Zweitens vergrößert sie das Leid in einer Situation, anstatt es zu verringern. Drittens führt sie zu Burnout.

Es wird immer Leid auf der Welt geben. Wenn wir es durchleiden, können wir nicht lange durchhalten. Fürsorge erfordert nicht, dass wir einfühlsam sind. Es ist viel schwieriger, sich aktiv zu kümmern, als mit einem anderen zu weinen. Fürsorge ist viel effektiver, besser für uns selbst und für andere, und es ist eine gesündere moralische Einstellung als Empathie. Deshalb sollten wir uns bemühen, fürsorglicher zu werden, nicht einfühlsamer.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick

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