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Wie tolerant sind wir?

MOLDOVA/ shutterstock.com
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield die Frage auf, wie tolerant wir gegenüber anderen Meinungen sein müssen: “Ich habe auf Facebook angeregt, darüber nachzudenken, Migration zu begrenzen. Ohne inhaltlich zu antworten, haben mich einige „Freunde“ gelöscht. Müssten wir nicht offener diskutieren?”

Frage: Es kommt mir so vor, dass unsere Toleranz in gesellschaftlichen Fragen schwindet, auch die Bereitschaft, inhaltlich zu diskutieren. Ich hatte zum Beispiel auf Facebook geschrieben, dass man darüber nachdenken könne, Migration zu begrenzen, aus bestimmten Gründen. Ohne inhaltlich zu antworten, haben mich einige „Freunde“ daraufhin in die rechte Ecke gestellt und gelöscht. Müssten wir uns nicht ernsthaft mit anderen Meinungen auseinander setzen? Wann ist Toleranz nicht angebracht?

Jay Garfield: Ich stimme zu, dass es immer schwieriger wird, Toleranz zu finden, und dass es für manche Menschen immer schwieriger wird, selbst tolerant zu sein. Das macht zivile Diskussionen über wichtige Themen nicht gerade einfach. Die Folge ist, dass unser öffentlicher Raum und die gesellschaftliche Diskussion über unsere gemeinsamen Werte und über die Politik verarmen.

Das von Ihnen angeführte Beispiel – die Einwanderungspolitik – ist ein guter Testfall für unsere eigene Toleranz gegenüber Unterschieden. Die Einwanderung stellt derzeit eine Herausforderung für viele Staaten dar.

Kriege, Umweltzerstörung, repressive Regierungen, zerfallende soziale Ordnungen und wirtschaftliche Ungleichheit veranlassen – und zwingen – viele Menschen, ihre Heimat zu verlassen, um anderswo ein besseres Leben zu suchen oder ihr eigenes Leben und das ihrer Familien zu retten.

Nur sehr wenige Staaten haben jedoch die finanziellen Mittel und den Platz, um eine unbegrenzte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen, ohne ihre Bürgerinnen und Bürger erheblich zu belasten und ohne den Charakter ihrer Gesellschaften wesentlich zu verändern.

Dies wirft eine Reihe moralischer und politischer Probleme auf, etwa in welchem Maße wir gegenüber Flüchtlingen und anderen Einwanderern verpflichtet sind und wie wir diese Verpflichtungen mit unserer Verantwortung gegenüber unseren eigenen Bürgern in Einklang bringen können.

Einige reagieren auf diese Lage, indem sie für offene Grenzen plädieren. Andere wollen die unbegrenzte Aufnahme von allen Asylsuchenden, aber nicht von Wirtschaftsmigranten. Wieder andere schlagen neue internationale Regeln für die globale Migration vor. Und dann gibt es Menschen, die die Grenzen schließen und die Staaten in nationale Festungen verwandeln wollen.

Meinungsverschiedenheiten sind notwendig

Jeder, der sich ernsthaft mit dieser Situation auseinander setzt, sieht, dass es für und gegen jede dieser Positionen gewichtige Argumente gibt. Je nachdem, in welchem Land man sich befindet und zu welchem Zeitpunkt man solche Fragen diskutiert, können unterschiedliche Positionen sinnvoll sein. Die Entscheidungsfindung erfordert eine offene Diskussion und Debatte, in der mehrere Stimmen gehört werden.

Aus diesem Grund sind wir als Bürgerinnen und Bürger, als Kollegen und als Freunde verpflichtet, einander unvoreingenommen zuzuhören. Dies gilt nicht nur für Debatten über Einwanderung, sondern für alle Debatten über strittige politische und soziale Fragen.

Meiner Ansicht nach sind Meinungsverschiedenheiten über politische Fragen und auch über Werte in jeder pluralistischen Gesellschaft notwendig, die vor schwerwiegenden Problemen steht.

Einigkeit in der Meinung und eine Gleichheit der Perspektiven sind in der Regel keine Zeichen positiver Solidarität, sondern oft die ersten Schritte auf dem Weg zum Totalitarismus. Denn zu viel Einigkeit kann dazu führen, dass Menschen, selbst wenn sie gemeinsame Ziele haben, blind für alternative Ansätze werden.

Wir feiern Vielfalt nicht, weil sie unterhaltsam ist, sondern weil sie unser Verständnis bereichert und Ideen in einer ehrlichen, offenen Diskussion auf den Prüfstand stellt.

Verpflichtung zu offenem, ehrlichem Austausch

Wenn wir einander nicht als ehrliche Diskurs-Teilnehmer im öffentlichen Raum ernst nehmen, wenn wir die Debatte abwürgen und die Diskussion von Ansichten, mit denen wir nicht einverstanden sind, vermeiden, tragen wir dazu bei, dass unsere soziale Ordnung zerbricht, Bindungen, die unser Leben lebenswert machen, zerstört werden, und Werte und soziale Ordnung, die wir schätzen, erodieren.

Das bedeutet nicht, dass wir verpflichtet sind, einer Meinung zu sein. Ganz im Gegenteil. Dialog setzt voraus, dass viele Positionen im Spiel sind und dass es Meinungsverschiedenheiten gibt. Die einzige Voraussetzung für den Dialog ist die gemeinsame Verpflichtung zu offenem, zivilem Austausch und zu intellektueller Ehrlichkeit. Wir sollten einander respektieren, einander zuzuhören und die Positionen des anderen ernst zu nehmen.

Natürlich kann es Menschen geben, die in schlechter Absicht ins Gespräch gehen oder Positionen vertreten, die so empörend und unhaltbar sind, dass sie nicht in den zivilen Dialog gehören. Aber dazu zählt Ihre Frage gewiss nicht. Es gibt eine breite Palette von Positionen zur Einwanderungspolitik, die von intelligenten, wohlmeinenden Menschen vertreten werden.

Ich stimme zu, dass die Weigerung, sich mit Andersdenkenden auseinanderzusetzen und vernünftige Positionen moralisch zu verurteilen, schrecklich destruktiv ist. Ich hoffe, dass Sie den Austausch mit Ihren Freunden, die vielleicht zu schnell und unüberlegt reagiert haben, wieder aufnehmen können.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick

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