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„Kinder können sich nicht selbst aus Armut befreien.“

Anette Stein/ Kai Uwe Oesterhelweg
Anette Stein/ Kai Uwe Oesterhelweg

Interview über Kinderarmut

Armut ist nicht selbstverschuldet, schon gar nicht bei Kindern, sagt Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung, die junge Menschen befragt hat. Im Interview spricht sie über Vorurteile von Erwachsenen, Bedürfnisse von Kindern und die Verantwortung der Gesellschaft, für das Wohl aller Kinder zu sorgen.

Das Gespräch führte Maria Köpf

Frage: Die Bertelsmann Stiftung veröffentlichte 2023, dass in Deutschland nahezu jedes fünfte Kind armutsgefährdet ist. Wie ist so etwas in einem so reichen Land möglich?

Anette Stein: Die Bertelsmann Stiftung hat das schon lange vorher thematisiert. Traurigerweise besteht diese Herausforderung seit Jahrzehnten nahezu konstant.

Nun aber soll die Kindergrundsicherung, die Familienministerin Lisa Paus auf ihre Agenda geschrieben hat, endlich Besserung bringen. Wird sie dies?

Stein: Aus meiner Sicht ist die Kindergrundsicherung längst überfällig. Aktuell werden der Kinderzuschlag und auch Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets von vielen anspruchsberechtigten Familien nicht beantragt.

Die 15 Euro pro Monat für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben beziehen zum Beispiel nur knapp 20 Prozent der berechtigten Kinder. Das liegt auch daran, dass der bürokratische Aufwand zur Beantragung dieser Mittel viel zu hoch ist.

Die Kindergrundsicherung ist im Gegensatz zu den bisherigen staatlichen Leistungen so konzipiert, dass sie das ganze Antragsverfahren erleichtert, um mehr Familien zu erreichen.

Die 2,4 Milliarden Euro an Kindergrundsicherung, die momentan im Raum stehen, sind allerdings viel zu wenig. Man bräuchte eigentlich mindestens 20 Milliarden, damit echte Teilhabe für arme Kinder möglich wird.

Was würden Sie auf das oftmals geäußerte Argument entgegnen, Eltern würden ihr höheres Familienbudget nicht unbedingt an die Kinder weitergeben?

Stein: Alle bislang durchgeführten wissenschaftlichen Studien belegen, dass der überwiegende Teil der Eltern zusätzliche Geldleistungen für ihre Kinder auch tatsächlich für diese ausgeben.

Arme Familien sind nicht selbst schuld.

Würden Sie sagen, dass es in der Gesellschaft eine Skepsis gegenüber ärmeren Familien gibt?

Stein: In jedem Fall wird das gesellschaftliche Bild von einem großen Vorbehalt geprägt: nämlich dem, dass Familien, die arm sind, am Ende doch selbst schuld seien. Tatsächlich rutschen Familien aber vielfach in Armut aufgrund von Schicksalsschlägen, wie einer Erkrankung oder auch einer Trennung.

Der Satz „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist hoch problematisch: denn so wird Armut als persönliches Problem betrachtet und nicht als strukturelles Problem erkannt, das sich ähnlich wie in Skandinavien lösen ließe.

Dass mehrere familienpolitische Maßnahmen über Jahrzehntekaum gefruchtet haben, ist ein deutlicher Hinweis, dass hier ein strukturelles Problem vorliegt und weniger ein selbstverschuldeter Missstand.

Wie würden Sie diese Skepsis gegenüber armen Familien gerne auflösen wollen?

Stein: Kinder und Jugendliche haben zunächst einmal alle die gleichen Rechte: auf gutes Aufwachsen, auf faire Teilhabe- und gleiche Bildungschancen – und zwar unabhängig davon, in welcher Familie sie aufwachsen.

Kinder und Jugendliche können sich nicht selbst aus Armut befreien; deswegen ist es einerseits ihr Recht und andererseits unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle vergleichbare Chancen erhalten.

Das liegt auch im volkswirtschaftlichen Interesse. Denn nicht nur die einzelnen Kinder würden davon profitieren, sondern vor allem wir als Gesellschaft – in Form höherer Steuereinnahmen und geringerer Kosten für Sozialleistungen. Wir müssen dringend den defizitären Blick auf die Familien ändern und uns fragen, wo welche Kinder was brauchen.

Wer wissen will, was Kinder brauchen, sollte sie selbst befragen.

Wie sähe eine vom Kind aus betrachtete Familienpolitik aus?

Stein: Das wäre eine Politik, die zunächst Kinder befragt, was sie selbst glauben zu benötigen. In Deutschland herrscht ein tief verwurzelter Adultismus. Das heißt, wir denken das, was Kinder betrifft, aus der Perspektive der vermeintlich klügeren Erwachsenen.

Wenn wir jedoch wissen wollten, was Kinder wirklich benötigen, müssten wir ihre altersspezifischen Bedarfe regelmäßig erheben und dazu auch die Kinder selbst befragen.

Denn nur sie können Auskunft darüber geben, was sie im Jahr 2024 brauchen, um dazu zu gehören und Jugendkultur leben zu können

Sie haben Kinder direkt befragt. Was ist dabei herausgekommen?

Stein: Bei mehreren Befragungen der Bertelsmann Stiftung zeigte sich, dass Kinder kein Wunschkonzert fordern. Im Gegenteil: Ärmere Kinder haben ihre Bedarfe meist schon nach unten reduziert. Das Wissen um die Bedeutung des Sparens im Alltag ist ärmeren Kindern eingeimpft.

Fragten wir Kinder, die sich Sorgen um die finanzielle Situation zu Hause machen, „Wofür braucht ihr denn Geld?“, führten diese häufiger als andere Kinder an, dass sie etwas zurücklegen müssen, um Rücklagen nach dem Auszug oder im Studium oder für ihren Führerschein zu haben.

Das sind sehr realistische Rückmeldungen. Ärmere Jugendliche beispielsweise forderten in unseren Erhebungen keinesfalls ein IPhone, sondern lediglich irgendein Smartphone, um unter Gleichaltrigen nicht ausgeschlossen zu sein. Und nicht, wie manche politische Vertreter fälschlicherweise oft behaupten, dass sich Kinder von ihrem Geld nur mehr Gummibärchen kaufen würden.

Wir müssen lernen, jungen Menschen mehr zu vertrauen.

Das hieße, dass wir Kinder nicht ernst nehmen.

Stein: Kürzlich sagte mir im persönlichen Umfeld eine Mutter: Hätte ihre Tochter mehr Geld zur Verfügung, würde sie sich ja nur Puppen kaufen.

An solchen Aussagen merkt man, welche Vorurteile Erwachsene mit sich herumtragen. Nämlich, dass Kinder und Jugendliche nicht reif genug wären, für ihre eigenen Lebenswelten das Geld klug auszugeben.

Wir und viele Kinderverbände votieren seit langem dafür, Kinder ernster zu nehmen und ihre Beteiligung zu stärken. Dabei bemühen sich immer mehr politische Entscheidungsträger, dem Rechnung zu tragen.

Es lässt sich erkennen, dass in Deutschland langsam ein Wandel geschieht. Doch es ist ein zu langsamer Prozess, und zu viele bewegen sich gar nicht in diese Richtung.

In welcher europäischen Gesellschaften läuft es Ihrer Erfahrung nach besser?

Stein: Die skandinavischen Länder, etwa Schweden oder Dänemark, sind schon viel weiter. Dort werden Kinderrechte stärker wahrgenommen.

Selbst bei juristischen Verfahren wird dort häufig mit einer Anhörung von Kindern und Jugendlichen gearbeitet, was hierzulande selbst bei Familiengerichten nicht die Norm ist.

Ich kann nur dafür plädieren, den jungen Menschen endlich mehr zu vertrauen. Ihnen überhaupt zu misstrauen entbehrt jeder Grundlage: Ich erlebe Kinder und Jugendliche als sehr engagiert darin, ihr eigenes Leben und auch die Gesellschaft mitgestalten zu wollen. Wir müssen eigentlich eher die Erwachsenen dazu bewegen, sich mehr auf Kinder einzulassen. Dann besteht keine Gefahr, dass etwas schief geht.

Anette Stein, Bildungsexpertin der Bertelsmann Stiftung, ist Direktorin des Programms Bildung und Next Generations und seit 1996 in der Bertelsmann Stiftung tätig. Sie widmet sich mit Studien, Vorträgen und ihrer Netzwerkarbeit dem Ziel, die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen in Deutschland systemisch zu verbessern und gesellschaftliche Haltungen zu ändern. Zuvor arbeitete die studierte Diplom-Bibliothekarin als Direktorin der Kinder- und Jugendbibliothek der Stadt Moers.

Mehr über ihre Arbeit: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/ueber-uns/wer-wir-sind/ansprechpartner/mitarbeiter/cid/anette-stein/

Quellen:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2023/januar/neue-zahlen-zur-kinder-und-jugendarmut-jetzt-braucht-es-die-kindergrundsicherung

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Kommt_das_Geld_bei_den_Kindern_an_2018.pdf

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Presse/20221110_Pressemitteilung_Kinderarmut-zeigt-sich-besonders-bei-Mehrkindfamilien_ST-BNG.pdf

https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/armut-vielen-deutschen-fehlt-geld-fuer-einen-einwoechigen-urlaub-a-f2f74fd5-09c9-4dc1-85fb-69e04fa8810a

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