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Klimakrise: „Was ich tue, hat Auswirkungen auf die Welt”

Nicole Glasse Photography/ shutterstock
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Interview mit dem Psychologen Stefan Ruf

Die Klimakrise ist eine so große Bedrohung, dass sie uns überfordert. Wie schaffen wir es trotzdem, angemessen zu handeln? Der Psychologe Stefan Ruf spricht im Interview über unsere Blockaden und Potentiale. Wir müssten erkennen, wie die Erdatmosphäre uns mit der ganzen Welt vernetzt.

 

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Sie haben 2019 ein Buch zur Klimapsychologie geschrieben. Ihr Thema: Warum finden wir nicht zu einem wirksamen Handeln in der Klimakrise? Was würden Sie heute antworten?

Ruf: Bis vor zwei Jahren hätte ich geantwortet, dass es an de Lücke zwischen Wissen und Verhalten liegt: Wir kommen aus dem, was wir über den Klimawandel wissen, nicht ins Handeln. Und das hat damit zu tun, dass das, was zwischen dem Kopf und der Hand liegt, das Herz, nicht beteiligt ist. Wir bekommen das, was wir wissen, nicht ins Fühlen. Ich finde diese Idee heute nicht falsch, aber unvollständig.

Denn dieses globale ökologisch-soziale Geschehen des Klimawandels ist so komplex, dass die meisten von uns es gar nicht angemessen denken können. Es ist also auch ein Problem des Denkens. Und es ist zudem so groß, dass wir es auch nicht tragen können, wenn wir es dann fühlen.

Für mich ist es ein komplexes seelisches Problem, das mit Wahrnehmen, Denken, Fühlen und innerer Tragekraft zu tun hat. All dies brauchen wir, um die Situation überhaupt erfassen zu können und daraus eine ethische Sicht zu entwickeln, die uns einen Handlungsimpuls gibt. Das würde aber eine seelische Transformation des Menschen erfordern, die über unser modernes Bewusstsein hinausgeht.

Von welcher Transformation sprechen Sie hier?

Ruf: Mit dem Klimawandel sprechen wir über eine der größten Transformationen der Natur, und wir merken, dass eine Antwort darauf auch eine gesellschaftliche Transformation erfordert. In diesem Zusammenhang wird z. B. von einem New Green Deal gesprochen.

Aber dabei beachten wir zu selten, dass auch das individuelle Bewusstsein eine Transformation durchlaufen muss. Was in dieser Situation von uns gefordert ist, kann eine moderne Psyche eigentlich gar nicht tragen. Wer angemessen auf diese Klimakrise antworten will, der muss eigentlich in einen Prozess der Bewusstseinserweiterung treten.

Dazu gehört als Erstes eine neue Wahrnehmungsfähigkeit, die auch mit Denken und Vorstellungskraft zu tun hat, um fassen zu können, wie sich das Klima verändert. Wir haben eine völlig verzerrte Wahrnehmung von Räumen und Grenzen, durch die wir den für uns angemessenen Raum nicht wahrnehmen. Wir sehen Grenzen dort, wo keine sind, und wo Grenzen sind, sehen wir sie nicht.

Zwischen 12 und 16 Kilometern über uns liegt die Grenze der Troposphäre, also der untersten Schicht der Erdatmosphäre. An dieser Grenze geschieht ein minimaler Verdichtungsprozess, wodurch sich die Konzentration von Kohlendioxid (CO2) und anderer Treibausgase in der Atmosphäre erhöht.

Diese Atmosphäre ist der Raum, in dem wir atmen können und gemeinsam eine Biosphäre bilden. Wir bilden gemeinsam mit Algen, der Milchkuh in der Schweiz, dem Hochmoor in den Anden an diesem Raum der Atmosphäre mit, der nur möglich ist, weil über unseren Köpfen eine gekrümmte Sphäre ist, die uns umhüllt.

Rational wissen wir das, aber wir nehmen nicht wahr, dass wir auf diese Weise eingehüllt sind. Wenn ich mir dessen bewusst werde, dann spüre ich, dass dieser Raum unendlich groß ist, aber zugleich auch begrenzt. Dann kann ich mir auch vorstellen, dass es ein Problem ist, wenn etwa zwei Billionen Tonnen CO2 aus der Grenze, die unter meinen Füßen ist, freigesetzt werden in den Raum, in dem ich stehe.

Dann verstehe ich auch, dass der atmosphärische Mantel, der mich umhüllt, mich mit der ganzen Welt vernetzt: Das, was ich hier als Individuum tue, hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Aber dazu muss ich mir diese atmosphärische Grenze lebendig vorstellen können. Dann wird sie fast zu einer Wahrnehmung, wenn ich in den Himmel schaue.

Wenn man sich in der Klimafrage engagiert, muss man gleichzeitig die desaströse Realität anschauen und eine Hoffnung darin finden.

Darüber hinaus stehen wir vor der Herausforderung, nicht-linear und systemisch denken zu lernen. Der moderne Mensch denkt kausal und linear, aber damit können wir ein systemisch vernetztes dynamisches Geschehen nicht erfassen. Wir verstehen z.B. nicht, was Kipp-Punkte bedeuten, nach denen eine bestimmte Entwicklung irreversibel ist. Wenn der Golfstrom aufhört oder die Permafrostböden auftauen, wird solch ein Kipp-Punkt erreicht, der eine Auswirkung auf die ganze Welt hat.

Und erforderlich ist auch ein dialektisches Denken, die Fähigkeit, innere Widersprüche auszuhalten und in einem „Und“ zu halten, statt in ein „Entweder-oder“ zu gehen. Wenn man sich in der Klimafrage engagiert, dann muss man gleichzeitig die ungeschminkte, desaströse Realität anschauen und eine Hoffnung darin finden. Es geht darum, den Schrecken und das Licht gleichzeitig in sich zu halten.

Das „und“ schafft eine große Spannung, die ich nur halten kann, wenn ich eine achtsame Beobachterinstanz ausbilde, die diese Widersprüche im Außen und in mir wahrnimmt. Das ist ein inneres Zentrum, einen innere Tragekraft.

Aus dieser Widersprüchlichkeit entsteht ein Schmerz, eine Verzweiflung, wie es die Tiefenökologin Joanna Macy beschreibt. Aber nicht als Schuldgefühl, sondern aus der Übernahme von Verantwortung. Auch für die Widersprüche in der eigenen Lebensweise.

Aus der Verzweiflung kann eine Handlungsenergie entstehen, die nach und nach einen ethischen Kompass ausbildet und verstärkt, aus dem ich dann handle. Dieses Handeln kann dann ganz individuell verschieden sein. Für den einen bedeutet es, den SUV, den man sich wünschte, nicht zu kaufen. Jemand anderes entschließt sich, bei Extinction Rebellion aktiv zu werden.

In der Jugend sehe ich eine transformative Kraft, die mir Mut macht.

Nun gehen diese Gedanken ja weit über das hinaus, was in der Klima-Debatte zur Sprache kommt. Nach dem, was Sie sagen, geht es nicht nur darum, das eigene Handeln zu verändern, sondern auch unser Bewusstsein. Wie kann man so etwas kommunizieren, ohne daraus eine neuerliche Überforderung werden zu lassen?

Ruf: Ich denke nicht, dass alle Menschen diesen Bewusstseinswandel durchlaufen müssten. Es müssten vor allem Menschen in Verantwortungspositionen sein, die sich in diese Richtung entwickeln, und dafür sehe ich auch Anzeichen.

Als Therapeut erlebe ich, dass die Fähigkeiten, die ich im Zusammenhang mit der Klimaproblematik beschrieben habe, heute sowieso notwendig sind, auch für andere Lebensbereiche. Vor allem die Fähigkeit, eine achtsame Zeugeninstanz in sich wahrzunehmen und zu entwickeln oder auch die Fähigkeit, dialektisch denken und fühlen zu können.

Und weil die Folgen der Klimakrise auch hierzulande spürbar werden, wächst die Bereitschaft, sich für eine tiefere Transformation zu öffnen, vor allem unter jungen Menschen. In den Shell-Studien, in denen alle vier Jahre Jugendliche befragt werden, was ihnen besonders wichtig ist, stehen Umwelt und Klima an erster Stelle.

Junge Menschen spüren eine zunehmende Verzweiflung angesichts der Klimakrise, was ja auch zu der Bewegung der Fridays for Future führte. Und viele der jungen Menschen, denen ich begegne, überraschen mich, weil sie viele der Seelenfähigkeiten, die ich zuvor beschrieben habe, schon ausgebildet haben. Deshalb erlebe ich in dieser Jugendbewegung eine transformative Kraft, die mir Mut macht.

Solche Seelenfähigkeiten werden auch breiter diskutiert als früher. Ich gehe regelmäßig auf Kongresse für Psychologen und Psychiater. Heute ist dort das Thema Achtsamkeit allgegenwärtig, während es noch vor einigen Jahren Randthema war. Es geschieht also auch ein gesellschaftlicher Prozess, der diese innere Transformation gar nicht mehr so groß und ungreifbar erscheinen lässt.

Im ersten Schritt müssen wir die innere Arbeit in unserer inneren Atmosphäre aufnehmen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass wir zwei Seelen in unserer Brust haben: Einen modernen Anteil und eine ökologische Seite. Was meinen Sie damit?

Ruf: Der moderne Mensch hat sich in einer technischen Welt eingerichtet, die für ihn bequem ist. Der moderne Anteil in uns versteht nicht, warum er sich verändern soll. Veränderung würde für diesen Teil in uns einen Kontrollverlust bedeuten.

Wir haben aber auch eine ökologische Seite in uns, durch die wir mit der Natur in Resonanz gehen können. Diese ökologische Seite in uns leidet angesichts der Umweltzerstörung, sie kann eine Kraft für unsere Transformation werden. Das Problem ist nur: Mit diesem ökologischen Empfinden können wir lokal unsere Umwelt wahrnehmen, aber wir spüren und verstehen nicht die globale Verbundenheit.

Um diesen Konflikt zwischen dem modernen und dem ökologischen Anteil in uns wahrzunehmen, der heute bei vielen Menschen spürbar ist, brauchen wir die eben beschriebene Achtsamkeit. Sie ist das Tor zur Transformation in ein erweitertes Bewusstsein, das ich als atmosphärisches Bewusstsein bezeichne.

In Zusammenhang sprechen Sie davon, dass wir in einer Mikro-, Meso- und Makrosphäre leben. Was bedeuten diese Ebenen?

Ruf: Ich habe versucht, einen Weg zu finden, wie ich mein individuelles Bewusstsein so weit ausdehnen kann, dass es die Makroebene unserer atmosphärischen Verbundenheit fassen kann. Dazu gehört eine neue Wahrnehmung von Raum und Grenzen, womit wir dieses Gespräch begonnen haben.

Der erste Schritt besteht darin, dass ich die innere Arbeit in meiner inneren Atmosphäre aufnehme, die ich zuvor beschrieben habe. Diese mikrosphärische Ebene der Innenwelt endet nicht an der Grenze der Haut. Wenn ich die Augen schließe, dann ist dieser Innenraum weiter als der Körper.

Durch eine solche Arbeit im eigenen Seelenraum bin ich dann auf neue Weise in der lokalen Umgebung begegnungsfähig – zwischen ich und du, ich und Pflanze, ich und Tier, ich und Wald. Das bezeichne ich als mesosphärischen Raum, den ich mit meinen Sinnen wahrnehmen kann.

Durch diese Sensibilisierung kann sich die Wahrnehmung und Begegnungsfähigkeit aber noch stärker ausweiten ins Makrosphärische. Hier erfahre ich eine globale Verbundenheit und verstehe, dass ich mit allen Wesen gemeinsam eine Atmosphäre bilde. Aber nicht nur als Gedanke, sondern auch als das Erleben einer Beziehung.

Und ich sehe heute viele Bewegungen, die solch ein global vernetztes Bewusstsein arbeiten, sei es im indigenen Aktivismus der Defend-the-Sacred-Bewegung, in der Tiefenökologie, in der Achtsamkeitsbewegung, im engagierten Buddhismus, in der Fridays-for-Future-Bewegung oder bei Extinction Rebellion und viele andere mehr. Diese Bewegungen machen mir Hoffnung, dass der Wandel, den ich hier beschreibe, möglich ist. Und jeder von uns kann daran mitwirken.

Foto: privat

Dr. med. Stefan Ruf ist Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie und arbeitet als Psychotherapeut mit den Schwerpunkten Traumatherapie und Borderline. Er ist Mitbegründer und Co-Geschäftsführer der Mäander-Jugendhilfe in Potsdam, einer therapeutischen Lebensgemeinschaft für Jugendliche und Junge Erwachsene mit Traumafolgestörungen und ähnlichen seelischen Krisen.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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