Ein Gespräch mit Tilmann Borghardt
Echte Spiritualität führe zu größerer innerer Freiheit ebenso wie zu Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft, ist Dr. Tilman Borghardt überzeugt, Lehrer in der buddhistischen Tradition. Er ermutigt Suchende zu intellektueller und spiritueller Redlichkeit und appelliert an Gemeinschaften, Kritik und Zweifel zuzulassen.
Das Interview führte Ayshen Delemen.
Frage: Globale Vernetzung, Erderwärmung, Zeit- und Leistungsdruck und die Nivellierung der kulturellen Werte sind immense Umwälzungen. Was ist die ethisch-moralische Antwort? Kann es eine universelle Achtsamkeit oder Spiritualität geben?
Borghardt: Als Antwort auf diese globale Herausforderung müssten wir Menschen aus dem Profitstreben herausfinden. Dieses Umdenken findet erst bei einer Minderheit statt und bewirkt noch keine ausreichend breite ethische und spirituelle Transformation.
Frage: Was würde einen spirituell transformierten Menschen ausmachen?
Borghardt: Ein spiritueller Mensch hat eine klare Ethik gefunden – innere Wertmaßstäbe, die sein Verhalten bestimmen. Seine höchsten Werte sind seine stärksten Antriebskräfte. Eine solche Person orientiert sich an Qualitäten, die ihr am Herzen liegen und nicht am äußeren Erfolg. Sie versteht, welche Denk- und Sichtweisen zu Leid führen und welche zu Glück. Diese Herzensqualitäten in Freiheit zu leben, ohne sie durch religiöse und kulturelle Glaubenssätze zu beschneiden, macht für mich einen wirklich spirituellen Menschen aus.
Spiritualität kann sich von kultureller Bedingtheit lösen.
Frage: Ethische Werte, moralische Integrität, Lauterkeit – all dies betrachten wir als spirituelle Qualitäten frei von religiösem Kolorit und althergebrachten Dogmen. Wie sähe eine Spiritualität frei von Zeitepochen und kulturellen Glaubenssätzen aus?
Borghardt: Eine völlige Freiheit von kultureller Bedingtheit erscheint mir kaum möglich. Und doch kann sich Spiritualität weitgehend aus ihr lösen, wenn sie auf überprüfbare Erfahrungen baut. Dadurch wird sie kulturübergreifend und zeitunabhängig, denn die grundlegenden Erfahrungen der Menschen in verschiedenen Zeiten und Kulturen sind offenbar gar nicht so unterschiedlich.
Wenn wir uns über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg über die eigenen Erfahrungen austauschen, entdecken wir, wie leicht es ist, andere zu verstehen, die ähnliche Erfahrungen machen. Es gibt Unterschiede und viel Gemeinsames; Glaubenssätze werden dabei entbehrlich – wir müssen nichts verteidigen, denn wir sprechen aus direktem Erleben.
Sich unverblümt über spirituelle Erfahrungen auszutauschen, könnte man eine „subjektive Wissenschaft“ nennen. Diese auf totaler spiritueller Redlichkeit beruhende subjektive Wissenschaft könnte eine neue Spiritualität sein, die sich weitgehend von kulturellen Glaubenssätzen löst. Hier stimme ich völlig mit den Beiträgen von Prof. Metzinger zur intellektuellen und spirituellen Redlichkeit überein. [1]
Frage: Der Begriff Spiritualität wird heute gerne in Verbindung mit Wohlgefühl im esoterischen Sinne, aber auch oft im christlich religiösen Kontext verwendet. Doch er bleibt diffus. Wie würden Sie Spiritualität definieren?
Borghardt: Ich verwende den Begriff Spiritualität nur selten, weil er so häufig von Personen benutzt wird, die keinen wirklich befreienden Weg gehen, sondern sich auf neue Art und Weise in Glaubenssätzen verfangen. Das ist nicht der ursprüngliche Sinn von Spiritualität. Für mich ist echte Spiritualität das Praktizieren eines Weges, der in größere innere Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung und Verantwortung für die Umwelt führt.
Ich werde nicht den Wertekompass der Aufklärung über Bord werfen.
Frage: Religionen bieten Methoden, Kodexe und Riten, um ihren Anhängern zu helfen, ein rechtes Leben zu führen. Doch viele Menschen, gerade im Westen fühlen sich bei dieser Frage von ihrer eigenen Religion nicht ausreichend begleitet und wenden sich der Achtsamkeit, Yoga oder anderen asiatischen Übungswegen zu. Dabei stellt sich die Frage, ob wir dem Wertekompass, der uns seit der Aufklärung geprägt hat, den Rücken kehren müssen?
Borghardt: Viele der asiatischen Übungswege tragen auch den Mantel der Religiosität. Es gibt aber in allen Traditionen aufgeklärte Praktizierende, die eine erfrischend unabhängige, redliche Spiritualität leben. Wie ich die Anregungen dieser Schulen aufnehme, ist meine persönliche Entscheidung. Habe ich die Kraft und den Mut, eine aufgeklärte, neuzeitliche Spiritualität zu leben im Sinne von intellektueller Redlichkeit, unter Einbeziehung aller Erkenntnisse, die uns die Natur- und Geisteswissenschaften zur Verfügung stellen?
Oder suche ich vor allem nach Gemeinschaft, Zusammenhalt, Glaubenssätzen und Sicherheit im religiösen Kontext? Brauche ich unantastbare Vorbilder, die nicht allzu kritisch beleuchtet werden sollen oder möchte ich den herausfordernden Weg gehen, selber zu denken und zu forschen und mich mit anderen kritisch Forschenden auszutauschen? Das muss jeder selbst entscheiden. Ich persönlich werde dabei jedenfalls den mühsam erarbeiteten Wertekompass der Aufklärung und die kulturellen Werte des sogenannten Abendlandes nicht über Bord werfen.
Ich sollte das Unterscheidungsvermögen kultivieren.
Frage: Wie lassen sich die geistig-spirituellen Werte von West und Ost vereinbaren? Woran kann sich eine spirituelle Person unserer Tage anlehnen?
Borghardt: Sie kann sich an einen Weisheitsschatz aus Ost und West anlehnen, zu dem alle Traditionen beitragen und der heute in nie gekannter Weise zugänglich ist. Er enthält Berichte über befreiende Erkenntnisse und ein tiefes Wissen um hilfreiche Vorgehensweisen. Entscheidend ist zu schauen, welche Methode wirklich hilft. Dabei müssen wir unserem inneren Piloten folgen und feine Antennen dafür entwickeln, was förderlich ist. Diese Antennen nutzen wir auch, um vertrauenswürdige Lehrerinnen und Lehrer auf dem Weg zu finden, mit deren Hilfe wir einen Teil des Weges gehen und die Methoden testen können, die uns interessieren.
Frage: Welche Qualitäten brauchen solche Lehrer?
Borghardt: Gute Lehrerinnen und Lehrer führen ins Erforschen des eigenen Geistes ein, so wie Wissenschaftler in Experimente im Labor; sie wissen, dass selbst kleine Veränderungen in der körperlichen und geistigen Haltung große Auswirkungen haben können. Ihre kompetente Unterstützung lässt tiefes Vertrauen entstehen.
Gute Lehrer lassen dabei die Forschenden frei, ihre Schritte selber zu lenken, und ermutigen sie, das auszutesten, was sie für heilsam und sinnvoll halten, auch wenn das bedeuten würde, andere Lehrer aufzusuchen. Hier unterscheidet sich befreiende Spiritualität von engeren Wegen, wo man nicht ‚die Lager wechseln‘ darf.
Frage: Auch auf dem spirituellen Weg sollte man die Selbstverantwortung und das Unterscheidungsvermögen nicht aus der Hand geben.
Borghardt: Ich sollte mein Unterscheidungsvermögen geradezu kultivieren, eine totale Redlichkeit, und mir selber nichts vormachen, sondern stets überprüfen, ob die Methoden, die ich gerade anwende, wirklich effizient sind oder nicht.
Die eigene Urteilskraft nicht für angenehme Gefühle herzugeben ist das Minimum.
Frage: So ist eine wache Selbstüberprüfung also auch auf einem authentischen spirituellen Übungsweg immer angesagt. Kann aber der unbewusste Hang nach emotionaler Geborgenheit nicht leicht dazu verführen, bestimmte Glaubensstandpunkte unkritisch zu kultivieren?
Borghardt: Die unbewusste Suche nach emotionaler Geborgenheit kann leicht zur Selbsttäuschung führen. Wenn wir in einer Gemeinschaft herzlich aufgenommen werden und emotionale Unterstützung bekommen, sind wir schnell geneigt, Kompromisse zu machen. Das ist in Ordnung, solange die Kompromisse bewusst sind.
Letzten Endes geht es aber um eine kompromisslose spirituelle Redlichkeit, wo wir uns auf dem Weg der Befreiung nicht kompromittieren lassen durch emotionale Bedürfnisse, wie sie in Glaubensgemeinschaften oft mitschwingen. Oft werden wir von unbewussten Motivationen ‚verführt‘ und sind dann rückblickend überrascht, wo wir überall zugestimmt haben, ohne es konsequent zu hinterfragen.
Die eigene Urteilskraft nicht für angenehme Gefühle herzugeben ist das Minimum. Optimal wäre eine spirituelle Gemeinschaft, in der wir uns kontrovers austauschen können – und zwar nicht über Meinungen, sondern über Erfahrungen und ihre möglichen Implikationen. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft würde darin bestehen, dass alle aufrichtig forschen und ihre Einblicke miteinander teilen. Dabei geht es nicht darum, zu einer einhelligen Meinung zu kommen, sondern immer besser zu verstehen, wie der Geist funktioniert, wie es zu Leid, zu Glück und zu Befreiung kommt. Es geht nicht um Rechthaben.
In der spirituellen Gemeinschaft geht es auch um ein Erforschen von dem, was allen gut tun könnte.
Frage: Dieser Punkt dürfte für Individuen, die im Rahmen einer Gemeinde, einer Sangha oder in einem Ashram den eigenen spirituellen Weg gehen möchten, von besonderem Interesse sein.
Borghardt: Ja, absolut. Spirituell schwache Gemeinschaften sind unfähig, aufrichtige Erkenntnissucher mit ihren Zweifeln, ihrer möglichen Kritik und ihrer Redlichkeit zu integrieren. Sie werden sie vielleicht sogar ausschließen, weil sie nicht in Frage gestellt werden möchten und kein wirkliches Interesse am Einzelnen und an einer Weiterentwicklung als Ganzes haben. Es ist traurig, wenn Gruppen nicht die Offenheit und Toleranz haben, solche Menschen zu unterstützen.
In einer spirituellen Gemeinschaft geht es über die Selbsterforschung hinaus um ein Erforschen von dem, was allen gut tun könnte. Dann steht der persönliche Befreiungsweg im Dienst der Gesamtheit. Wenn das fehlt, kann eine Gemeinschaft nicht wirklich spirituell genannt werden. Kritisches Forschen reibt sich halt mit dem Wunsch nach Ruhe, Geborgenheit und Stabilität.
Frage: Welche Position nimmt die intellektuelle Redlichkeit ein, auf einem innerlich wie äußerlich stimmigen Erkenntnisweg, also bei der Annäherung an Wahrhaftigkeit?
Borghardt: Intellektuelle wie emotionale Redlichkeit sind unerlässlich, um in Wahrhaftigkeit, eine tiefe Erfahrung der Wirklichkeit, hineinzufinden. Das höchste Gut der Menschheit – das Hineinfinden in die befreiende Qualität des Seins – verträgt keine Unredlichkeit. Wir können nicht ins Wahre, Eigentliche, Non-Duale, Göttliche, Numinose oder ins Dao finden, wenn wir unredlich sind. Unredlichkeit ist mangelndes Gewahrsein.
Wo immer wir unredlich sind, sind wir nicht ganz gewahr, weil wir zurückzucken. Aber genau darauf kommt es doch an – total gewahr und aufrichtig zu sein. Dafür braucht es Mut. In einem innerlich wie äußerlich stimmigen Erkenntnisweg nimmt die Redlichkeit eine zentrale Position ein. Ohne sie ist ein Erkenntnisweg nicht möglich. Wo redlich geforscht wird, gibt es auch überzeugende Ergebnisse – auch auf dem Weg des Erwachens.
[1] Thomas Metzinger: Vortrag „Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit – ein Versuch“.
Dr. Tilmann Lhündrup Borghardt schlägt in seinen Vorträgen und Aufsätzen Brücken vom Buddhismus zur westlichen spirituellen Tradition, Philosophie und Psychologie. Als buddhistischer Mönch verbrachte er lange Jahre in strikter meditativer Klausur und veröffentlichte als Übersetzer aus dem Tibetischen zahlreiche klassische buddhistische Texte. Heute führt er seine internationale Lehrtätigkeit fort und gründet das Institut für essentielle Psychotherapie.