Kontroverse Dialoge über das Selbst

Cover Singer/ Ricard 2017

Gespräch von Wolf Singer und Matthieu Ricard

Der Neurowissenschaftlicher Wolf Singer und der buddhistische Mönch Matthieu Ricard führen kontroverse Dialoge über das Leben, das Ich, Gehirn, Bewusstsein und Emotionen. Die unterschiedlichen Sichtweisen bei gleichzeitiger Offenheit für die Welt des anderen machen den Reichtum dieses lehrreichen Buches aus.

 

 

Wie erfrischend es sein kann, wenn Menschen mit unterschiedliche Standpunkte in einem Dialog aufeinander zugehen, ohne sich zu verbiegen, zeigt dieses Buch. Wolf Singer, einer der renommiertesten Hirnforscher Deutschlands, und Matthieu Ricard, einer der erfahrensten Meditierenden im Buddhismus – sie sind befreundet –, sprechen über Kernfragen unserer Existenz. Man spürt förmlich die Resonanz, die entsteht, wenn verschiedene Stimmen miteinander klingen.

Gleich auf den ersten Seiten geht es zur Sache: Ricard erklärt in Grundzügen die buddhistische Sicht, nach der das Bewusstsein die entscheidende Rolle im Leben spielt und durch Meditation verändert werden kann; er ist der Überzeugung, dass es tiefere Bewusstseinsebenen gibt, die unabhängig vom Gehirn sind.

Singer bringt gleich zu Beginn einige Kritikpunkte auf den Tisch: dass es kein vom Gehirn unabhängiges Bewusstsein geben kann, dass die Neurowissenschaften einen Substanzdualismus von Geist und Materie ablehnen und die Erfahrungen von Meditierenden keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielten, weil man sie nicht von außen betrachten kann.

Und so geht es über mehr als 300 Seiten immer tiefer zu fundamentalen Fragen: Wie zum Beispiel lassen sich Emotionen regulieren, und welche Rolle kann Meditation dabei spielen? Einig sind sich beide, dass der Mensch an den Wahrnehmungsprozessen arbeiten und seine Aufmerksamkeit willentlich lenken kann.

Was ist Wirklichkeit?

Singer besteht darauf, dass die Schulung des Bewusstseins nicht die einzige Option ist, um ethisch zu leben, und führt Bildung und kognitive Therapien als Maßnahmen an. Ja, er gibt zu bedenken, ob Meditation „eine selbstbezogene Technik“ sei. Ricard entgegnet, Meditation könne nur dann sinnvoll sein, wenn sie sich im Alltag bewährt.

Weiter geht es mit erkenntnistheoretischen Betrachtungen: Ist das, was wir wahrnehmen, Wirklichkeit? Und was bedeutet es, dass wir unsere Wirklichkeit „konstruieren“? Hier treten Differenzen in den Weltbildern zutage, denn wie weit geht das Konstruieren? Findet man Übereinstimmung bei dem, was zwei Menschen als „real“ bezeichnen?

Bei der Erkundung des Selbst zeigen sich gewisse Gemeinsamkeiten zwischen buddhistischer Philosophie und den Neurowissenschaften, die beide ein autonomes Selbst ablehnen und von selbst-organisierten, komplexen Dynamiken sprechen.

Wenn man das Gefühl hat, mit den schwierigen Themen über den Berg zu sein, wird man im 5. Kapitel eines Besseren belehrt. Das Nachdenken über „Freier Wille, Verantwortung und Gerechtigkeit“ ist kein Spaziergang.

Wenn alle geistigen Prozesse die Folge neuronaler Prozesse sind, stellt sich die Frage, wie viel Willensfreiheit der Mensch eigentlich hat und wie determiniert unser Leben ist. Hier entspinnt sich eine anregende kontroverse Diskussion, und jetzt ist es Matthieu Ricard, der provokante Fragen stellt. Die beiden unterschiedlichen Weltbilder scheinen aber auch hier unüberbrückbar. Ricard pocht darauf: Die Freiheit des Menschen bestehe im Wesentlichen darin, sein Bewusstsein zu schulen und seine Gedanken zu steuern, um sich selbst weiterzuentwickeln.

Ein ungemein spannendes und lehrreiches Buch! Singer hat die Gabe, komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen, und bringt eine große Offenheit gegenüber fachfremden Sichtweisen mit.

Ricard glänzt durch seine Fähigkeit, Einsichten aus seiner langjährigen Meditationserfahrung auf den Punkt zu bringen, und geht souverän mit wissenschaftlichen Themen um. Kein Wunder, denn er ist von Haus aus Molekularbiologe. Die unterschiedlichen Sichtweisen machen den Reichtum dieses Buches aus und ermöglichen dem Leser, seinen Horizont zu erweitern.

Birgit Stratmann

Wolf Singer, Matthieu Ricard. Jenseits des Selbst. Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017

 

 

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