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Krebs – eine Erfahrung

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Ein Gastbeitrag von Kerstin Chavent

Kerstin Chavent erhielt 2012 die Diagnose Brustkrebs. Sie begab sich dann auf eine lange Reise der Selbsterkenntnis. Im folgenden Artikel teilt sie ihre Erkenntnisse: Der Körper, so Chavent, weise uns durch Krankheit darauf hin, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Im Sommer 2012 erhielt ich die Diagnose Brustkrebs – eine Woche vor meiner Hochzeit. Es war der Anfang einer Erfahrung, wie eng Schrecken und Glück, Hell und Dunkel zusammenliegen können und wie oft die Dinge letztendlich nicht das sind, als das sie erscheinen.

Ich folgte dem traditionellen Protokoll: Chemotherapie, chirurgischer Eingriff, Bestrahlung, Hormontherapie. In einer der besten Kliniken Frankreichs wurde mein Tumor vergiftet, seine Reste herausgeschnitten und sein Umfeld verbrannt – so ist die heutige Antwort der Medizin auf eine der verbreitetsten und gefährlichsten Krankheiten unserer Zeit.

Offiziell gibt es keine Alternative. Alle natürlichen Methoden werden entweder als unwirksam oder als Scharlatanerie disqualifiziert. Doch trotz der aggressiven Behandlung konnte mir niemand garantieren, dass die Methoden, die für Millionen Menschen konzipiert werden, auch bei mir wirken würden. Jeder Mensch ist anders war die regelmäßige Antwort der Ärzte.

Nach den ersten Behandlungen fühlte ich mich zunehmend schwächer. Bei der Prozedur wird das gesamte Immunsystem nach und nach zerstört. Die Chemotherapie tötet alles. Man hofft, dass nur die guten Zellen überleben. Doch es gibt keine Garantien, das Vertrauen beruht ausschließlich auf der Auslegung der Statistiken.

Ich überstand die Behandlungen und bin heute in Remission. Von Heilung ist bei Krebs selten die Rede, so wie bei den meisten modernen Zivilisationskrankheiten. Sie werden behandelt, so früh und so lange wie möglich. Oft sterben die Menschen an den Nebenwirkungen der Medikamente. Die iatrogenen Krankheiten, das heißt die Krankheiten, die die Medizin selber hervorbringt, sind heute die dritte Todesursache in den Industriestaaten.

Ich begann, meinem Körper zu vertrauen“

Parallel zu der konventionellen Behandlung habe ich auf komplementäre natürliche Heilmethoden zurückgegriffen. Ihr Ansatz beruht auf dem Gegenteil dessen, was die moderne Medizin anbietet: Sie greift so wenig wie möglich in den Organismus ein und unterstützt die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers.

In den Millionen Jahren der Evolution war alles darauf ausgerichtet, so perfekt und so lange wie möglich zu funktionieren. Nach dem Ansatz der Komplementärmedizin hängt die Gesundheit von der Qualität der Energie ab, die in einem Körper zirkuliert. Ist der Energiefluss unterbrochen, entsteht Krankheit. Aufgabe der Medizin ist es, die Blockaden aufzuheben, damit die Energie wieder frei fließen kann.

Ich begann, meinem Körper zu vertrauen. Krankheit ist seine Art, uns darauf hinzuweisen, dass das Gleichgewicht durcheinander geraten ist. Da wir mehr als die Summe unserer Einzelteile sind, nämlich komplexe, ganzheitliche Wesen, in denen Körper und Geist zusammen spielen, erkannte ich, dass es bei mir ein Problem nicht nur in körperlicher Hinsicht gab.

C.G. Jung sagte, dass nicht wir unsere Krankheiten, sondern unsere Krankheiten uns heilen. Sie können uns auf ungelöste Aspekte in unserem Leben aufmerksam machen. Ich hatte einen Tumor in der Brust: das Symbol der Weiblichkeit, des Nährens, des Gebens und Nehmens. So wusste ich, wo ich zu suchen hatte. Meine Rolle änderte sich damit radikal: Ich war nicht mehr nur Patientin, die Entscheidungen anderer über sein Leben hilflos ausgesetzt ist, sondern trat selbst in Aktion.

Begleitet von Therapeuten forschte ich in meiner Lebensgeschichte und entdeckte lang unterdrückte Emotionen. Ich lernte Visualisieren und Meditieren, Techniken, deren Wirksamkeit heute unbestritten ist. Ich sprach über das, was mit mir geschah, denn ich glaube, dass wir nicht alleine und in der Isolation gesund werden, sondern dass Heilung ein Prozess der Gemeinsamkeit und des Austauschs ist.

So kam nach außen, was sich über viele Jahre in mir angestaut hatte. Ich fühlte mich damit weder als Opfer dessen, was mit mir geschah, noch schuldig für meine Krankheit. Ich übernahm die Verantwortung für meine Gesundheit und mein Leben, indem ich meine Haltung den Dingen gegenüber bewusst veränderte.

Der Krebs, mein Krebs, hat mich auf den Weg geschickt zu dem, was mich wirklich mit dem Leben verbindet. Er hat mir geholfen, meinen Platz zu finden und mich selbst so anzunehmen, wie ich bin, mit meinen Stärken und Schwächen. Ich lebe bewusster und aufmerksamer und fühle mich mehr im Leben als vorher.

Die konventionelle Behandlung hat mir Zeit gegeben. In den zwei Jahren meiner Krankschreibung konnte ich mir darüber klar werden, was sich in meiner Art zu leben ändern musste, um dauerhaft gesund zu bleiben. Ich habe meine Einstellung zu vielen Dingen geändert und lasse mich heute weniger von anderen vereinnahmen als früher.

Die Augen öffnen und zuhören

Heute sehe ich, dass der Krebs unsere Art zu leben reflektiert, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv: Wir isolieren uns hinter unseren Bildschirmen und ziehen uns in künstliche Welten zurück, in denen eigene Regeln gelten. Wir kapseln uns ab und verlernen es, mit den Menschen in unserer direkten Umgebung zu kommunizieren. Wir zerstören unsere Umwelt und das, was uns Leben gibt. Genau das passiert bei Krebs in unserem Körper.

Krebszellen sind Zellen, die die Fähigkeit zur Kommunikation verloren haben und sich nach eigenen Regeln entwickeln. Sie folgen nicht der Apoptose, dem natürlichen Selbstzerstörungsprogramm der gesunden Zellen; sie wollen leben! Doch sie haben die Orientierung verloren und breiten sich in alle möglichen Richtungen aus, ohne Rücksicht darauf, dass sie damit letztendlich den Organismus, der ihnen Leben gibt, zerstören. Ist Krebs die Aufforderung der Natur an uns, unserem Leben eine neue Richtung, einen neuen Sinn zu geben, authentischer zu leben, in Verbindung mit den anderen und in Einklang mit unserer Umwelt? Aus dem Engagement, das sich daraus für mich ergibt, ziehe ich meine Kraft.

Kerstin Chavent lebt als Autorin und Sprachlehrerin in Südfrankreich und schreibt auf Deutsch und auf Französisch. Ihre Bücher: “Krankheit heilt – vom kreativen Denken und dem Gespräch mit sich selbst”, 2014, “Traverser le miroir – de la peur du cancer à la confiance en la vie” (Den Spiegel durchqueren – von der Angst vorm Krebs zum Vertrauen in das Leben), 2016. Im Frühjahr 2017 erscheint “Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist – Zuversicht für eine neue Zeit.”

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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