Krieg, Migration, Klimakrise: Wie weit geht unsere Verantwortung?

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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Thema Verantwortung auf: “Ich kann Verantwortung für Menschen in meinem Umfeld übernehmen, aber für leidende Menschen, die ich gar nicht kenne und die weit weg sind?”

 

Frage: Wie weit geht unsere Verantwortung? Wir hören täglich von Krisenherden weltweit. Viele fordern so etwas wie „globale Verantwortung“, damit tue ich mich schwer. Ich kann Verantwortung für Menschen in meinem Umfeld übernehmen, Familie, Freunde, Kollegen. Aber für Menschen, die ich nicht kenne, für Flüchtlinge aus Syrien, Protestierende in Hongkong oder die Armen in Afrika?

Jay Garfield: Dies ist eine tiefgreifende und schwierige Frage, und auch kluge Menschen sind sich nicht einig, wie man sie beantworten soll. Einige Philosophen, z.B. Peter Singer und der Dalai Lama, die sonst sehr unterschiedliche moralische Ansichten haben, argumentieren, dass Distanz – ob physisch, kulturell oder emotional – moralisch irrelevant sei. Unsere Verantwortung und Pflichten gegenüber allen fühlenden Wesen seien gleich, und die besondere Achtung vor den Menschen in unserer Nähe sei willkürlich und vielleicht sogar unzulässig.

Andere, z.B. Bernard Williams, Annette Baier oder konfuzianische Philosophen meinen, dass unser moralisches Leben und unsere Verantwortung eng mit den sozialen Beziehungen verknüpft sind. Besonders starke moralische Verpflichtungen hätten wir gegenüber denen, die uns nahe stehen, wie Familie und Freunde. Mit zunehmender Entfernung nehme diese Verpflichtung ab.

Es gibt gute Gründe, alle diese Anschauungen ernst zu nehmen. Einerseits können Sie nicht wirklich überzeugend erklären, dass ein Kind, das in einem fernen Land an Hunger stirbt, unsere Sorge weniger verdient als eines in unserem eigenen Land, oder dass unsere eigene Mutter wichtiger ist als die Mütter anderer Menschen.

Andererseits spüren wir eine besondere Beziehung zu unseren eigenen Kindern und Eltern, und damit geht eine entsprechende Verpflichtung einher. Andere Menschen haben sich genauso um ihre eigenen Familien zu kümmern. Wir sind überzeugt, dass es falsch ist, unsere eigenen Familien zu vernachlässigen, um anderen zu helfen. Soziale Bindungen scheinen besondere moralische Verpflichtungen mit sich zu bringen.

Verantwortung ist etwas anderes als Pflicht

Wie können wir diese scheinbar gegensätzlichen Ansichten in Einklang bringen, wo doch jede für sich überzeugend ist? Ein Vorschlag: Wir könnten damit beginnen, dass wir Verantwortung von Pflicht unterscheiden. Verantwortung im moralischen Sinne bedeutet, dass eine Reaktion erwartet wird; das Wort “antworten” steck in dem Begriff. Eine Pflicht zu haben bedeutet, eine spezifische Verpflichtung zum Handeln zu haben, also eine konkretere Art von Reaktion.

In unserer Zeit kann man durchaus sagen, dass wir eine globale oder universelle Verantwortung haben. Das heißt, es ist gut, dass wir auf andere, etwa auf Fremde reagieren, zumindest emotional. Es ist gut für unsere Gesellschaft, für unsere Gemeinschaften und unsere eigene moralische Gesundheit, wenn uns z.B. Krieg und Hunger in anderen Kontinenten nicht gleichgültig sind.

Natürlich haben wir begrenzte Ressourcen – begrenzte Zeit, Energie, Aufmerksamkeit, emotionale Reaktionsmöglichkeit, finanzielle Mittel und Fähigkeiten. Wir können also weder alle Probleme der Welt lösen noch jedem helfen, der Hilfe braucht. Aber das hindert uns nicht daran, uns zu kümmern und zu sorgen, d.h. in irgendeiner Weise Anteil zu nehmen und zu reagieren: sei es emotional oder in Form von Unterstützung derjenigen, die helfen können. Sich dieser Art von Verantwortung zu entziehen, würde uns als Menschen gleichgültig und kalt machen, und das wäre fatal.

Anteil nehmen am Leiden, auch wenn es fern erscheint

Wie könnte man auf fernes Leiden reagieren? Es gibt viele Möglichkeiten: Man kann sich als Freiwillige bei einer gemeinnützigen Organisation engagieren oder diese mit Spenden unterstützen. Oder man kann sich an einen politischen Vertreter wenden und entsprechende Maßnahmen zur Linderung von Not fordern.

Gut sind auch Gespräche mit Freunden, Familie oder Nachbarn, um deren Bewusstsein zu schärfen. Zumindest können wir über das Leiden, von dem wir hören, nachdenken und wünschen, dass es beendet wird. Als Nebeneffekt entsteht eine größere Wertschätzung für die eigene relative Sicherheit und das eigene Wohlbefinden. Außerdem erweitert man sein eigenes moralisches Bewusstsein und wir können in Zukunft besser unsere Stimme erheben und moralische Anliegen vertreten. Jede dieser Reaktionen hilft und ist besser, als sich einfach abzuwenden, denn dann verschließen wir unsere Herzen und das Leiden bleibt bestehen.

Dienst an Menschen in unserer Nähe

Unsere unmittelbaren sozialen Beziehungen verpflichten uns stärker. Familie, Freunde, Nachbarn oder andere uns nahestehenden Menschen erfordern von uns angemessene Reaktionen. Ja, wir müssen handeln, wenn sie uns brauchen. Wir sind verpflichtet, uns um sie zu kümmern, und diese Verpflichtung ist stärker als gegenüber Menschen, die in der Ferne leben.

Menschliche Wärme erfordert echte Hingabe an die Menschen , das heißt bloßes Nachdenken, Wünschen und Reden allein reichen hier nicht. Möglicherweise müssen wir einen materiellen Beitrag oder beträchtliche emotionale und logistische Unterstützung leisten, um ihr Leiden zu lindern. Dies können wir unmöglich für Menschen in entfernten Regionen tun.

Wir sollten aber im Hinterkopf haben, dass sich die Umstände ändern können. Es geschieht oft im Leben, dass Menschen, die uns fern erschienen, in unsere Nähe rücken. Wenn das geschieht, wird die allgemeine Verantwortung, Sorge zu tragen, zu einer Fürsorgepflicht. Unsere moralischen Beziehungen sind also fließend. Der Hauptpunkt ist: Globale Verantwortung und Verantwortung für Nahstehende sind kein Gegensatz, sondern beide wichtig.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Balbach. Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick

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