Das letzte Buch von Tilman Jens
Der Journalist Tilman Jens (1954–2020) war für seine Unerschrockenheit und seinen Drang nach Freiheit bekannt, aber auch für einen Hang zur Selbstzerstörung. Sein letztes Buch vor seinem Suizid handelt von seinem Reporterleben und seiner Krankheit.
Tilman Jens (1954-2020) war Journalist, u.a. für ARD, ZDF, Arte, und Schriftsteller. Er war dafür bekannt, mutig und unerschrocken auch heikle Themen aufzugreifen. So veröffentlichte er 2009 ein in den Medien breit diskutiertes Buch über die Demenzkrankheit seines Vaters Walter Jens, ein anderes über den Freitod eines Mannes in der Schweiz mit assistierter Sterbehilfe.
Gegen Ende seines Lebens, das zum Schluss von Krankheit gezeichnet war, hat er ein kleines Buch über sein Reporterleben und sein Diabetes geschrieben, das im Juni 2021 veröffentlicht wurde. Das Buch vollendete er nicht, da er sich im Juli 2020 das Leben nahm.
Titel und Person versprechen ein hochinteressantes Buch. Seit sein Diabetes diagnostiziert wurde, hat Jens versucht, so weiter zu leben, wie er es gewohnt war, vor allem viel zu arbeiten, immer auf der Suche nach etwas Neuem, Aufregendem. Die Ratschläge, Rezepte und schließlich Drohungen der Ärzte hat er in den Wind geschlagen. Er, der Freiheitsliebende, wollte sich keine Grenzen setzen lassen.
Dieser Freiheitsdrang hat der Krankheit zuletzt einen uneinholbaren Vorteil gewährt und ging einher mit einem Hang zur Selbstzerstörung. Das Buch handelt zu großen Teilen von seinem rasendem Leben.
Er selbst benutzt wiederholt das Bild von der Kerze, die an beiden Seiten brennt, dem Dauerstress, dem er sich freiwillig aussetzt, um noch einen weiteren interessanten Auftrag abzuarbeiten, seinem Verbrauch an Alkohol, Essen und Liebespartnerinnen.
Das geht so weit, dass er einen schwer entzündeten Zeh nicht behandeln lässt, weil er die Hintergründe am Mord des Danziger Bürgermeisters recherchieren soll. Nach der Reportage muss der Zeh amputiert werden.
Der Auseinandersetzung mit dem Tod ausgewichen
Der Autor schildert sein Leben mit der Krankheit und ihren Auswirkungen detailliert. Er deckt sich und seine Freunde an keiner Stelle. Das Buch ist ein radikales Bekenntnis, und die Namensänderungen für die realen Personen, um ihre Identität zu schützen, wirken fast rührend.
Die Schonungslosigkeit, mit der er berichtet, geht jedoch nicht besonders tief. Sie betrifft sein aufregendes Leben, seine Fehler im Umgang mit seiner Krankheit, mit seinen Partnerinnen und seiner Arbeit. Nur einem scheint er auszuweichen: der Auseinandersetzung mit dem Tod.
Das ist höchst erstaunlich, da der Titel genau das beschreibt und man es von diesem Autor wirklich erwarten würde. Das Buch bricht jedoch ab, bevor es zu Auseinandersetzung mit dem Ende des Lebens kommt. Letztlich flieht er in den Tod. Die Krankheit ist schlecht zu behandeln, der Tod unausweichlich.
Seine erste Frau sagte über ihn, er habe wohl eine „Hornhaut auf der Seele“. In diesem Geist ist auch dieses Buch verfasst, das gleichzeitig ein Abschiedsbrief ist: Er ist eine kühle Reportage über die letzte Lebensphase des Autors und die Gefühle, die er dabei hat.
Jens wollte nicht klagen und jammern; das ist ihm anzurechnen. Aber als Leser vermisst man die Auseinandersetzung mit seinen Vorstellungen über den Tod, über seine damit verbundenen Ängste oder Hoffnungen.
Von einem so wachen Geist und begnadetem Journalisten hätte man erwartet, dass er auch in diesen Abgrund schonungslos hineinblickt und sich selbst reflektiert. Doch dazu kam es nicht. Das Buch blieb unvollendet. Das 6. Kapitel sollte lauten „Endzeitstimmung. Mein Diabetes in Zeiten von Corona“.
Carsten Petersen
Tilman Jens. Die Freiheit zu leben – und zu sterben: Ein Bekenntnis. Ludwig Buchverlag 2021