Der Film „Anselm“ von Wim Wenders
In seinem Dokumentarfilm „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ porträtiert Wim Wenders den Maler und Bildhauer Anselm Kiefer. Teilweise in 3D taucht der Zuschauer in die monumentalen Werke Kiefers ein, in denen er sich auch mit der deutschen Geschichte auseinander setzt. Kinostart ist der 12. Oktober 2023.
Schon vor 30 Jahren fassten der Maler Anselm Kiefer und der Regisseur Wim Wenders den Entschluss, einen Film über die Kunst Kiefers zu machen. Damals trafen sie sich in Berlin, Wenders drehte eine Fortsetzung seines erfolgreichsten Films „Der Himmel über Berlin“, und Kiefer arbeitete an einer großen Ausstellung.
Erst jetzt, nach vielen Jahren, in denen beide zu weltweit anerkannten Künstlern wurden, konnten sie ihr Vorhaben umsetzen. „Now or never“, erkannten die beiden bei einem Besuch von Wenders in Kiefers Kunstlandschaft in Barjac in Südfrankreich, eine ehemalige Fabrik, die Kiefer über Jahrzehnte lang nach seinen ästhetischen Visionen umgestaltet hat und die sich heute in Obhut einer Stiftung befindet und besucht werden kann.
Wenders und Kiefer verbindet viel. Beide gingen damals nach ihrer Begegnung in Berlin ins Ausland, Wenders in die USA, Kiefer nach Frankreich. Anselm Kiefer stieß bei seiner Ausstellung in Berlin auf Unverständnis, zu viel Pathos wurde ihm vorgeworfen. Seine Kampfflugzeuge aus Blei, die er dort unter anderem ausstellte, waren vielen Menschen in ihrer Wucht und ihren Assoziationen zum Krieg zu schwer, zu beladen.
Den Menschen den Spiegel vorhalten
Anselm Kiefer hat sich als Künstler dem Schweren, den Brüchen, den Katastrophen, den existenziellen Fragen immer wieder ausgesetzt. Er sagt, „die Menschen suchen das Leichte, weil sie das Schwere nicht sehen wollen.“ Kiefer hat den Blick nicht abgewendet. Immer wieder hat er die deutsche Vergangenheit thematisiert.
Die Frage, wie der Nationalsozialismus eine ganze Gesellschaft erfassen konnte, ließ ihn nicht los. Die Mythen und die Dichtung, die damals missbraucht wurden, tauchen immer wieder in seinen Arbeiten auf.
Kiefer wurde wie Wenders ins zerstörte Nachkriegsdeutschland geboren, in dem die Menschen das Schreckliche und die eigene Schuld vergessen wollten. Einer der ersten Werkzyklen von Kiefer stieß genau in diese Wunde.
In der Wehrmachtsuniform seines Vaters fotografierte er sich mit Hitlergruß in europäischen Hauptstädten und malte dieses Motiv. Ihm schlug Empörung entgegen, manche hielten ihn für einen Nazi. Kiefer aber wollte, wie er sagte, den Menschen einen Spiegel vorhalten. Der Film zeigt in Archivaufnahmen diese Reaktionen auf Kiefers Werk und folgt dem Werdegang des Künstlers durch seine verschiedenen Lebensstationen und Atelierorte.
Man scheint durch die Landschaften der Werke zu schweben
Aber Wenders Film ist weitaus mehr als eine Künstlerbiografie, er möchte die Beweggründe, die inneren Absichten, die Strahlkraft von Kunst erlebbar machen. Deshalb hat sich Wenders entschieden, eine neue 3D-Technik zu verwenden, weil sie für ihn ein neues Sehen, ein umfassendes Eintauchen in die Bilderwelt der Kunst ermöglicht.
Dadurch werden die oft großformatigen Malereien, die räumlichen Installationen und Objekte Kiefers in ihrer Präsenz spürbar. Die geschickte Kameraführung tut ihr Übriges, man scheint durch die Räume und Landschaften zu schweben.
Der Film will aber nicht nur die Kunstwerke erlebbar machen, sondern auch den Impuls ergründen, aus dem Kiefer sie geschaffen hat. Mit gespielten Szenen aus der Kindheit des Malers wird das frühe Erwachen zur Welt sichtbar und der Wunsch, das Gesehene in Zeichnungen wiederzugeben.
Wir gehen mit Kiefer auch in den Prozess der Entstehung seiner Werke, folgen ihm auf dem Fahrrad durch sein riesiges Atelier, wenn er nach Utensilien für ein neues Gemälde sucht. Wenn er auf der Hebebühne an der riesigen Leinwand arbeitet oder mit einer Baumaschine Blei auf die Leinwand gießen lässt oder die vertrockneten Pflanzen auf einem Bild mit Feuer behandelt.
Wie man Blei in Gold verwandelt
Kiefers Kunst ist massiv, sie kann einen mit ihrer Wucht auch manchmal überwältigen. Und sie ist Arbeit. Nicht nur äußerlich, sondern auch im inneren, geistigen Raum. Bei Kiefer pulsieren darin eine Fülle von Bezügen aus Geschichte, Mythos, Philosophie, Mystik, Alchemie, Physik und Poesie.
Immer wieder die Poesie. Vor allem die Gedichte des jüdischen Dichters Paul Celan, dessen Familie im Holocaust umkam und der wie Kiefer in Frankreich lebte, sind für den Künstler zur Quelle von Inspiration und Erschütterung geworden.
Der Film lässt diese geistige Arbeit, der sich Kiefer vollkommen verschrieben hat, transparent werden. Nicht so sehr durch lange Interviews, sondern vor allem in der Bildsprache und der einfühlenden und gleichzeitig respektvollen Nähe zum Künstler.
In der visuellen Poesie, mit der Wenders die Kunstwerke und schöpferischen Prozesse sichtbar werden lässt, weckt er auch eine Ahnung davon, wie das Schwere, das Unverstehbare, Rätselhafte des Lebens durch Kunst angesprochen und vielleicht sogar ein Stück weit transformiert werden kann. Wie man Blei in Gold verwandelt.
Mike Kauschke