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Lebendig, ganz lebendig sein

Freebilly Photography/ shutterstock.com
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Das meditative Fragen von Toni Packer

Den Kopf von vorgefertigten Ideen zu befreien, darum ging es Toni Packer. Sie verstand sich nicht als „Meditationslehrerin“, wurde aber als spirituelle Autorität angesehen. Sie startete in der Zen-Tradition, löste sich dann jedoch und beschritt ihren eigenen Weg: das meditative Erforschen dessen, was in uns lebendig ist. Ursula Richard stellt Toni Packer und ihren Ansatz vor.

„Lebendig, ganz lebendig sein. Das heißt Fließen ohne Hindernis – ein ungeschützter Strom von Lebendigkeit, ohne Widerstand, ohne Zeitempfinden, ohne zwanghaftes Nachdenken über „mich selbst“, darüber, was ich bin, was ich sein werde.“ Toni Packer

Oft wurde die Deutsch-US-Amerikanerin Toni Packer (1927-2013) in ihren Kursen gebeten, eine bestimmte Meditationsmethode oder-technik zu empfehlen, um den unruhigen Geist zur Ruhe zu bringen und die Gedankenfluten oder emotionalen Stürme zu befrieden. Doch sie hat dies immer abgelehnt.

Denn sie war davon überzeugt, dass Gewahrsein oder das Erleben von lebendiger Ganzheit nicht das Ergebnis einer Technik, Methode, Tradition oder bestimmten Körperhaltung ist, sondern einfach da ist, „ungeschaffen, frei wirkend, in Weisheit und Liebe, wenn die Ich-Bezogenheit unseres Denkens klar durchschaut ist und sich auflöst im Licht des Verstehens.“

Aber sie hat auch nicht geleugnet, dass es Bedingungen gibt, die solche Erfahrungen begünstigen: in Stille sitzen, lauschen, schauen, nach innen, außen, dahin, wo innen und außen nicht mehr zu trennen und unterscheiden sind. Damit ließ sich gut in den Schweigewochen experimentieren, die sie zweimal im Jahr in Roseburg bei Hamburg, im Haus der Stille, anbot.

Das Besondere an diesen Wochen war – und das machte Toni Packer zum Geheimtipp für viele Zen-Übende (mich auch) – dass es eine klare Tagesstruktur mit vielen Sitzperioden gab. Aber dies waren Angebote, man konnte, musste aber nicht sitzen. Es war möglich, stattdessen auch spazieren zu gehen, zu schlafen oder sonst was zu tun, aber in Stille. Und man konnte erfahren, welche Stille in der Meditationshalle, im eigenen Inneren möglich ist, wenn es keinen Widerstand mehr gibt gegen aufgezwungene Strukturen.

Ich habe schon viele Lehrende über Achtsamkeit oder Gewahrsein reden gehört, und das tat sie auch, aber sie sprach immer auch aus einem Raum des Gewahrseins heraus. In ihren Vorträgen hatte sie die Augen stets geschlossen, so als lausche sie nach innen und spreche dann das aus, was sich dort hörbar machen wollte.

Die spirituelle Reise von Toni Packer

Toni Packer wurde 1927 in Berlin geboren, schon früh zog die Familie nach Leipzig. Ihre Kindheit war von der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten, von Judenverfolgung, Krieg, Bombardements und Zerstörung geprägt. Ihre Mutter war Jüdin. Die Eltern ließen ihre Kinder taufen, um sie zu schützen.

Wlodek Duch, Wikimedia Commons

Durch die Arbeit des Vaters in einem für den Krieg wichtigen Bereich war die Familie vor Verfolgung geschützt, konnte aber nicht ausreisen. Dies konfrontierte Toni Packer schon in jungen Jahren mit drängenden Frage nach dem Sinn des Lebens. Auf diese Frage vermochte ihr weder die jüdische noch die christliche Religion mit ihrem allmächtigen, liebenden Gott, der dennoch all dies Grauen zuließ beziehungsweise nicht verhindern konnte, keine überzeugenden Antworten zu geben.

Nach dem Krieg zog die Familie in die Schweiz. Dort lernte sie einen amerikanischen Studenten kennen und zog 1950 mit ihm in die USA. Hier kam sie mit dem Buddhismus in Berührung und wurde schließlich Schülerin des Zen-Meisters Roshi Kapleau. Dessen Buch Die drei Pfeiler des Zen hatte einen enormen Einfluss auf die Entwicklung und Verbreitung des Zen im Westen.

Doch wurde ihr mit den Jahren zunächst deutlich und dann immer mehr zum Problem, dass Zen, obwohl es für sich beansprucht, frei von Dogmen, Ritualen und Glaubensüberzeugungen zu sein, sehr wohl ein System von religiösen Überzeugungen, Hierarchien, Machtstrukturen und Verhaltensregeln beinhaltet, das aber nicht hinterfragt wird.

Durch ihre Bekanntschaft mit dem indischen Weisheitslehrer Jiddhu Krishnamurti und seinen Schriften, der jegliche Bindung an religiöse Traditionen verworfen und die Freiheit von allen Autoritäten als Voraussetzung für ein wirkliches Erforschen der Wahrheit bezeichnet hatte, wurden ihr die „blinden Flecken“ traditionsgebundener Wahrheitssuche immer bewusster.

Sie verließ schließlich Roshi Kapleau, dessen Nachfolgerin sie hatte werden sollen, löste sich von der Zen-Tradition und gründete das Springwater Center for Meditative Inquiry, in dem sie bis zu ihrem Tod 2013 lebte und lehrte. Dort gibt es keine Rituale und Zeremonien, keine traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung.

Meditieren, um die Konditionierungen zu erkennen

Das meditative Erforschen oder Fragen, das dem Zentrum seinen Namen gibt, ist kein Fragen, das nach schnellen Antworten sucht. Gemeint ist vielmehr eines, bei dem die Frage gegenwärtig bleibt, in der Schwebe gehalten wird. Das können Fragen sein wie „Wer bin ich?“, „Wer ist es, der hört, sieht, denkt?“, solche, die Selbstbilder oder die eigenen Narrative über sich und die Welt betreffen („Warum verletzt mich dieses oder jenes so?“, „Was wird da verletzt?“), oder auch konkrete Empfindungen in den Mittelpunkt rücken („Was ist Einsamkeit als Erleben jenseits des Begriffs oder Etiketts?“, „Wie fühlt sich Schläfrigkeit an?“) Oder Fragen, die sich ganz banalen Alltagsdingen widmen. Toni Packer machte keine Unterschiede zwischen „hoch spirituellen“ und ganz alltäglichen, lebenspraktischen Fragen.

Wesentlich erschien ihr der Prozess und weniger eine Antwort, die sich am Ende einstellen mag oder auch nicht. Es geht um einen Zustand des Geistes, der nicht weiß, der offen ist für das Lebendige des Moments, für immer neue Fragen und neues Erkennen und den Kopf von vorgefertigten Ideen über uns und die Welt befreit.

Für Toni Packer sind es unsere konditionierten Muster, erworben meist in frühen Jahren durch Eltern, Erziehung, Gesellschaft, die alles von uns Erlebte durchtränken. Solange sie unbewusst bleiben, bestimmen sie unser Denken, Handeln und Fühlen. Sie prägen unser Erleben und überziehen die Wirklichkeit mit einem bestimmten Raster, in dem wir uns dann nur noch bewegen. So lange wir das nicht durchschauen, agieren wir vor allem aus unseren Mustern heraus.

Wenn diese Konditionierungen nicht als solche gesehen und in Frage gestellt werden, führen sie ein Eigenleben, werden zu blinden Flecken, mit zum Teil recht fatalen Konsequenzen. Entscheidend ist es daher Toni Packer zufolge, zu einem Gewahrsein, einer tief greifenden Offenheit, zu gelangen. In dieser offenbart sich „die starke Macht und die treibende Kraft unseres menschlichen Konditioniertseins, die uns zeigt, wie wir in Vorstellungen von uns selbst und voneinander gefangen sind, die uns erkennen lässt, wie wir an diesen Vorstellungen hängen, wie sehr wir sie verteidigen – nicht nur individuell, sondern auch kollektiv – und wie diese Verteidigungshaltung die Menschen voneinander isoliert und uns in uns selbst aufspaltet.“

Offenes, nicht-ich-bezogenes Gewahrsein

Toni Packer spricht von Gewahrsein, selten von Achtsamkeit, da Achtsamkeit als ein Ausgerichtetsein auf etwas, sei es ein Geräusch, ein Gefühl oder ein Gedanke, zunächst immer noch jemanden voraussetzt, der achtsam ist und sich dessen auch bewusst ist und daraus dann wieder alle möglichen Selbstbilder ableiten kann.

Gewahrsein dagegen hat, so Toni Packers Verständnis, diesen ich-bezogenen Aspekt nicht. „Es hat kein Ich-Zentrum. Auf unergründliche Weise wirft es Licht auf das Bewusstsein, auf die selbstbezogenen Aktivitäten. Nicht indem es bewertet, verurteilt oder akzeptiert, was auch immer sich enthüllt. Es beleuchtet einfach, macht das durchsichtig, was sich in diesem Moment zeigt.“

Mit offenem, nicht-ich-bezogenem Gewahrsein wahrnehmen bedeutet, die Dinge immer wieder neu, frisch und unvoreingenommen sehen, mit einem Blick, der nicht bereits imprägniert ist durch ein konzeptuelles Vorverständnis über uns und die Dinge. In gewisser Weise bedeutet es, mit dem neugierigen Blick eines Kindes schauen, das noch wirklich etwas sehen und erfahren und nicht schon alles weiß und Neues nur noch ins Altbekannte einordnen will.

„In direkter Fühlung mit dem ganzen Netzwerk von Gedanken, Empfindungen und Gefühlen sein, ohne sie als gut oder schlecht, richtig oder falsch zu beurteilen. Es ist Nach-Innen-Sehen ohne Wissen, Offenheit für all das, was innen-außen abläuft – Fließen ohne Greifen oder Ansammeln. Stille inmitten von Bewegung und Aufregung ist ohne Wissen, ohne Richtung, ohne Zeit. Es ist ein vollständiges Zulassen dessen, was ist, von Augenblick zu Augenblick.“

„Die Wahrheit ist ein pfadloses Land“

Offenes Gewahrsein öffnet den Raum, in dem wir herausfinden und spüren können, was die Dinge uns jenseits ihrer Namen und der sie umgebenden Konzepte zu sagen haben. Was geschieht mit Empfindungen, wenn ich ihnen den Namen, das Etikett entziehe, wenn ich sie nicht mehr als dieses oder jenes identifiziere, sondern sie sich als Geschehen im Raum des Gewahrseins oder der Achtsamkeit einfach entfalten können?

Gibt es etwas, das auch nur einen Augenblick gleich bliebe? Ein solcher Blick auf die Dinge enthüllt den prozessualen Charakter allen Geschehens. Alles verändert sich fortwährend, ist in einem Fluss, in dem sich die Festigkeit der Dinge und Eigenschaften auflöst – und der/die Beobachtende verschwindet.

Dieses Gewahrsein ist für Toni Packer das A und O, um jenseits religiöser oder spiritueller Traditionen und damit einhergehender Orientierungsmarken das zu finden, was trägt. „Die Wahrheit ist ein pfadloses Land“, ist ein berühmter Ausspruch Jiddu Krishnamurtis.

Sich frei von allen vorgefassten Überzeugungen, Glaubenssätzen und neuen Autoritäten daran zu machen, die für einen wichtigen existentiellen Themen in die Tiefe gehend auszuloten, vermag sicher die Frage nach dem, was einen wirklich tragen kann, nachhaltiger zu beantworten als eine Orientierung an den Glaubenskonzepten anderer. Diesen Pfad im pfadlosen Land zu gehen, dazu hat Toni Packer durch ihr eigenes Beispiel, aber auch durch ihre Worte Mut gemacht.

Toni Packer kam 2003 zum letzten Mal ins Haus der Stille und konnte danach krankheitsbedingt nicht mehr reisen. Die Schweigewochen finden aber weiterhin zweimal im Jahr dort statt. In dem von ihr entwickelten Rahmen treffen sich Menschen – mittlerweile haben die meisten von ihnen Toni Packer niemals persönlich erlebt – um ohne (An-)Leitung miteinander für eine Woche in Stille zu meditieren und zu sein.

Ursula Richard

Bücher von Toni Packer:

Der Moment der Erfahrung ist unendlich, Theseus Verlag 1996

Mit ganz neuen Augen sehen, Roseburger Schriftenreihe 2015

Fragen in die Stille, Aurum Verlag 2007

Das Wunder des Jetzt, Theseus Verlag 2004

 

privat

Ursula Richard, Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie hat Toni Packer Mitte der 1990er Jahre kennengelernt und seither an ihren Schweigewochen teilgenommen. Sie hat zwei Bücher von Toni Packer im Theseus Verlag herausgebracht und in ihrem Buch “Die drei Pfeiler des Glücks” über sie geschrieben.

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