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“Lebensmittel sind moralische Produkte”

Koray Akar/ shutterstock.com
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Interview über Ernährung und Landwirtschaft

„Unsere Agrarsystem kann sich nur ändern, wenn sich der Konsum ändert“, sagt Agrar- und Ernährungsethiker Franz-Theo Gottwald. Billige Lebensmittel treiben Bauern in die Selbstausbeutung. Gespräch über einen bewussteren Umgang mit dem Leben und warum die Ernährung eine drängende ethische Frage ist.

 

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit einer ökologischen Transformation der Landwirtschaft. Worin sehen Sie die Kernprobleme?

Gottwald: Das Kernproblem ist die sehr weit fortgeschrittene Arbeitsteilung in der Landwirtschaft. Das heißt, es gibt eine Kette von Lieferanten und eine weitere Kette, über welche die sogenannten Agrarrohstoffe, die der Landwirt mit dem gelieferten Input erzeugt, abgenommen werden. Diese Arbeitsteilungmacht die Steuerung des gesamten Agrarsystems so schwierig.

Im konventionellen und im Bio-Landbau gibt es zahlreiche einzelunternehmerische Interessen. Der Landwirt braucht Futtermittel, Düngemittel, Pflanzenschutzmittel. Um seine Waren zu verkaufen, braucht er Händler, Mühlen, Molkereien, Viehhändler, Schlachter, Zerleger und den Lebensmittelhandel.

Hinzu kommt die Abhängigkeit von der Finanzwirtschaft durch Kredite und Versicherungen.Die Urproduktion ist nur ein kleines Glied in dem Ganzen, wird aber für alles, was auf dem Land passiert, in die Haftung genommen.

Das ist auch ein sozial-ethisches Problem, denn alle verdienen am Landwirt und seiner Tätigkeit. Der Landwirt wird als derjenige wahrgenommen, der diese ganze arbeitsteilige Kette repräsentiert, er hat darin aber am wenigsten zu sagen. Das Sagen haben die Banken, die Zulieferer, die Versorger mit Maschinen und digitalen Werkzeugen u.a.m.

Der Landwirt zahlt am Ende für die billigen Lebensmittelpreise.

Welchen Einfluss hat die Globalisierung auf die Landwirtschaft?

Gottwald: Die Input-Stoffe kommen häufig nicht aus der Nähe, sondern werden auf dem Weltmarkt gekauft. Beides, die Arbeitsteilung und die Globalisierung, setzen den Landwirt, die Landwirtin so unter Druck, dass es als Kontrollverlust erlebt wird.

Dieses Erleben wird verstärkt durch die mangelnde finanzielle Anerkennung, denn die Urproduktion wird gesellschaftlich nicht hinreichend wertgeschätzt. Alle anderen verlangen ihre Preise, aber der Lohn für den Landwirt kann sich verringern, manchmal bis auf null. Bauern und Bäuerinnen werden so immer wieder in die Selbstausbeutung getrieben.

Weil die Konsumenten möglichst preisgünstige Lebensmittel haben wollen, zahlt am Ende der Landwirt dafür. Billige Lebensmittel einzukaufen, hat aber hohe Kosten, wenn man es volkswirtschaftlich betrachtet. Es entstehen soziale Kosten beim Landwirt (Krankheit, Grundstücksverluste). Es entstehen externe Kosten wie geschädigte Gewässer oder erodierende Böden, die nicht in die billigen Preise einberechnet werden.

Den Preis für billige Lebensmittel zahlen die natürliche und die soziale Mitwelt. Real gerechnet müssten Lebensmittel – bei Produkten tierischen Ursprungs z.B. – manchmal 100 oder gar 200 Prozent teurer sein.

In Berlin gibt es derzeit ein wirtschaftsethisch interessantes Experiment. Die Firma Penny betreibt dort einen Laden, in dem auch die realen Kosten ausgewiesen werden, wenn die Preise die soziale und ökologische Wahrheit sagen würden.

Wie kann diese Situation verändert werden? Welche Impulse dazu gibt es schon?

Gottwald: Der Diskurs verändert sich, er wird ganzheitlicher, und die vielfältigen Wechselwirkungen rund um die Ernährung werden genauerangeschaut.

Ein Beispiel sind die CO2-Äquivalente, über die ermittelt wird, wie viel an CO2 von einem Betrieb gesamtheitlich ausgestoßen wird. Dieser Wert kann dann kompensiert werden. So kann die Lebensmittelwirtschaft in Regionen oder Nationen nettomäßig klimaneutral gestellt werden.

Eine andere positive Veränderung ist die schon angesprochene Debatte um die Ehrlichkeit der Preise. Diese Veränderung bezieht alle Verbraucherinnen mit ein, denn das Agrar-System kann sich nur ändern, wenn sich die Konsumgewohnheiten ändern. Das lässt sich über veränderte Preise steuern.

In diese Richtung geht beispielsweise ein Vorschlag der sogenannten Borchardt-Kommission für Tierwohl, mittels Aufschlägen auf den Preis von Wurst und Fleisch Einnahmen zu generieren, die in das Tierwohl investiert werden können. Es muss allerdings noch geprüft werden, ob und wie genaus das politisch EU-konform umgesetzt werden kann.

Zudem gibt es technologische Entwicklungen, die zunehmend vegane Produkte ermöglichen. Dadurch wird Lebensmittelproduktion vom Boden entkoppelt, wodurch sich die Böden regenerieren oder unter Naturschutz gestellt werden können. Es geht hier um ethische Praxis und politische Steuerung, also um die Umsetzung von Leitprinzipien, die in einer ethischen Begründung wurzeln.

Wenn der Biolandbau die Welt satt machen soll, dann müssten wir eine mediterane Diät einhalten.

Welche Rolle spielt dabei der Biolandbau für Sie?

Gottwald: Der Biolandbau wirkt in vielerlei Hinsicht entlastend und regenerierend auf die Natur, z. B. durch eine erweiterte Fruchtfolge. Er hat in unseren Breiten den Nachteil, dass er weniger Ertrag pro Fläche bringt. Das wird jetzt von vielen Praktikern angegangen, beispielsweise mit Mischfrucht-Anbau oder anderen agrar-ökologischen Praxen.

Es muss sich auch noch zeigen, ob der Ökolandbau in unseren Breiten wirklich resistenter für Klimaveränderungen ist. Es wird auch noch daran geforscht, ob bei konsequentem Bioanbau die Biodiversität in der Fläche wirklich zunimmt, wenn man alles mitdenkt, von den Bodenlebewesen über die Insekten, Vögel und die Feldfauna.

Trotzdem ist ist der Biolandbau für die Mitwelt schonender als intensive konventionelle Produktion. Aber wenn der Biolandbau die Welt satt machen sollte, dann müssten wir in Deutschland z.B.eine mediterrane Diät einhalten, mit höchstens 20 Prozent Lebensmitteln pro Tag aus tierischem Ursprung. Das wäre eine Halbierung des Anteils tierischer Produkte an unserer derzeitigen täglichen Nahrung..

Damit wäre ja auch ein Bewusstseinswandel in unserem Umgang mit dem Bodenund den Tieren angesprochen. Und dies erfordert eine andere Beziehung oder ein anderes Bewusstsein dafür, woher unsere Nahrung eigentlich kommt.

Gottwald: Es bahnt sich ein Bewusstseinswandel an. Wir haben in den jüdisch-christlich geprägten Kulturen ein zentrales Konzept dafür, die Geschöpflichkeit oder Mitgeschöpflichkeit. Dies ist in ländlichen Regionen auch neu mobilisierbar. Allerdings nicht in der Form einer Pyramide, bei der der Mensch an der Spitze steht, sondern eines Mitseins auf Augenhöhe.

Hier kommt uns die evolutionsbiologische Erkenntnis zugute, in der wir zunehmend lernen, wie hoch der Verwandtschaftsgrad zwischen uns und allen anderen Lebewesen ist.

Das Hauptproblem ist, dass wir in urbanen Zentren bestenfalls die Nachbarn als Mitgeschöpfe sehen. Wir sind anthropozentrisch geprägt und bei unserem Konsumverhalten geht es letztlich immer um uns.

In urbanen Räumen ändert sich aber auch etwas, weil zunehmend die Mitgeschöpfe wie Füchse, Wildschweine oder Vögel aller Arten in den Städten häufiger vorkommen als auf dem Land. Dadurch gibt es neue und teils überraschende Begegnungen zwischen Städtern und der tierischen Mitwelt.

Wenn wir die Verwandtschaft mit unseren Mitlebewesen anerkennen, dann sehen wir, dass wir gar nicht von unseren Äckern und Böden leben könnten, wenn die Bodenlebewesen nicht ihre Arbeit tun würden. Durch das Wissen um ökologische Zusammenhänge merken wir, dass wir auf diesem Planeten alle aufeinander angewiesen sind.

Wir können dann auch nicht einfach sagen, die Kühe müssen weg, weil sie zu viel Methan ausstoßen. Denn die Biodiversität im Grünland ist nur dann hoch, wenn Weidetiere da sind.

Wir können durch Kollaps lernen oder durch Bewusstseinsreifung.

Wie kann jeder und jede von uns ganz praktisch im Alltag zu diesem Wandel beitragen? Wie lässt sich die Entfremdung von den Böden, von der Landwirtschaft, von den „Nutztieren“ überwinden und ein neues Verhalten einüben?

Gottwald: Für mich persönlich ist ein wunderbarer Zugang das Gärtnern, sich in Verbindung zu bringen mit dem Boden, den Pflanzen, den Kleinstlebewesen und Kleintieren. Das gilt auch für urbane Mentalitäten, urbane Gärten sind ja mittlerweile eine Bewegung.

Man kann seine Lebensmittel auch aus der Urproduktion beziehen durch Gemüsekisten, um regional und biologisch einzukaufen. Lebensmittel sind moralische Produkte und so kann jeder z.B. auch auf die Inhaltsstoffe achten und etwas genauer hinschauen. Zum Beispiel beim Palmöl prüfen, wo es herkommt und ob es nachhaltig erzeugt wurde.

Auch Freizeit oder Urlaub können so gestaltet werden, dass es möglichst viele Gelegenheiten gibt, der Natur und dem entsprechenden Agrarraum zu begegnen wie bei Radtouren oder dem Wandern.

Ein besonderes Anliegen ist Ihnen das Tierwohl. Welche Veränderung brauchen wir hier?

Gottwald: Was den mit uns lebenden, in der Landwirtschaft vom Menschen genutzten Tieren tierethisch gesehen guttut, ist klar. Die landwirtschaftlichen Betriebe, die Tiere nicht artgerecht halten, müssen dazu befähigt werden. Sie brauchen Fortbildungsmaßnahmen und Investitionshilfen, um eine flächengebundene Tierhaltung zu gewährleisten und mit heimischen Futtermitteln füttern zu können statt mit Soja-Importen.

Solche Veränderungen erfordern auch das Gespräch mit den Bauern, da gibt es in den Familien auch biografische Traditionen, die verwandelt werden müssen

Auf der Seite der Konsumenten wäre eine deutliche Reduktion der Aufnahme von Produkten tierischen Ursprungs nötig. Das bringt Erleichterung, denn dann kann ein System umgestellt werden auf eine flächengebundene Haltung.

Worauf setzen Sie die größte Hoffnung für einen ökologischen Wandel in der Landwirtschaft und in der Gesellschaft?

Gottwald: Es gibt eine zynische Variante, die heißt: durch Kollaps lernen. Und es gibt eine sanfte Variante: durch Bewusstseinsreifung. Dabei ist es so, dass man als Konsument ständig Kaufentscheidungen trifft, die man auch verändern kann.

Als Gesellschaft können wir uns entscheiden, die Umstellung auf Ökolandbau, Permakultur, gemeinschaftsgestützte regionale Landwirtschaft und regenerative Landwirtschaft zu fördern.

Diese Umstellung hat auch eine moralische Komponente. Wenn ich etwas ethisch gesehen besser machen kann, dann bin ich durch die Einsicht verpflichtet, es zu tun. Ich nenne das gerne die Ethik des Könnens durch ein Verstehen, wie mein Leben selbst reicher würde, wenn ich auch die landwirtschaftlich genutzten Tiere als geliebte Verwandte anschaute.,.

Denn wenn man die Sozialität ausweitet über die Mitmenschen hinaus auf andere Mitgeschöpfe, entsteht ein wunderbarer größerer Raum, in dem man sich selbst lebendiger erfahren kann. Dann setze ich mich, nach Maßgabe meiner Möglichkeiten dafür ein, dass die Mitlebewesen, die ich in meinem Bewusstsein mit einbeziehe, so leben können, wie es ihnen gemäß ist.

Foto: privat

Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald, Agrar- und Ernährungsethiker, Politik- und Unternehmensberater, Autor, Keynote-Speaker. Er studierte Katholische Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften und Indologie, war viele Jahre Vorstand der Münchner Schweisfurth-Stiftung und ist Honorarprofessor für Umwelt- und Bioethik an der Humboldt-Universität in Berlin.

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