Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Suche
Close this search box.

„Leiden sollte uns wütend machen“

Cover Be angry

Ein Buch des Dalai Lama

„Be Angry!“ Seid wütend! heißt ein Büchlein mit Aussagen des Dalai Lama. Darin beschreibt der Friedensnobelpreisträger, wie wichtig es ist, sich über soziale Ungerechtigkeit und politische Untätigkeit zu empören und ins Handeln zu kommen. Wut sei vereinbar mit Mitgefühl, wenn sie sich nicht gegen Personen richte.

Dieses schmale und luftig gestaltete Buch, das auf Gespräche mit dem japanischen Autor Noriyuki Ueda zurückgeht, hat es in sich: Der Dalai Lama, Friedensnobelpreisträger und weltweit angesehener spiritueller Führer, setzt sich differenziert mit dem Thema Wut auseinander. Wut kann zwar destruktiv sein, sie ist aber auch eine Kraft, die wir brauchen, um Missstände zu überwinden, so die Botschaft.

Grenzen sind individuell und können auch widersprüchlich sein. Wenn eine Grenze nicht berücksichtigt wird, können wir sie deutlich sichern: „Bis hierher und nicht weiter“. Grenzen zieht der Dalai Lama auch im Alltag. Ich habe erlebt, wie er seine Belehrung im überfüllten Haupttempel von Dhararamsala unterbrach, weil zwei Mönche in den vorderen Reihen schwätzten. Er wies die beiden zurecht und bat sie zu gehen.

So etwas erfahren wir auch auf persönlicher Ebene: Wenn eine Grenze überschritten wird, spüren wir, wie unser Herz rast, wir fühlen uns eng und haben ein flaues Gefühl im Bauch. Unsere Intuition sagt: „Hier stimmt was nicht.“ Wenn man uns schlecht behandelt oder ausnutzen will, ist es ein guter Schutz, persönliche Grenzen zu ziehen.

Wie aber lässt sich Wut mit einer religiösen Einstellung vereinbaren? Denn der Dalai Lama ist ein religiöser Mensch. Er spricht von „mitfühlender Wut“, die er von destruktiver Wut unterscheidet: „Wut hilft uns, Kräfte abzuwehren, die unserem Überleben und Wohlergehen abträglich sind. Es ist ganz natürlich, dass Bedürfnisse nach Distanz und Eigenverantwortlichkeit und Gefühle wie Wut aufkommen.“

Wut als Mittel zum Handeln

Mit mitfühlender Wut auf ungerechte Situationen zu reagieren, erlaubt uns, entschlossen zu handeln. Wir sollten sie nutzen, bis die Ungerechtigkeit beseitigt ist. Hier liegt allerdings auch ein Problem, wie der Autor ausführt:

„Wenn die Wut aber über diese praktische Funktion hinausgeht, ist der größte Teil der Energie, die sie uns bringt, überhaupt nicht hilfreich.“ Wer sich von der Wut beherrschen lässt, kann nicht klar denken und verliert die Kraft zu urteilen. Nur in Verbindung mit Mitgefühl sei die Wut hilfreich.

Aus Hass auf eine andere Person zu handeln macht die Wut destruktiv und negativ, so sieht es der Friedensnobelpreisträger und grenzt sich klar von Gewalt und schädigendem Verhalten ab. Handeln wir jedoch aus „zornvollem Mitgefühl“, weil wir um das Wohl anderer Person besorgt sind, kann diese Art der Wut zu konstruktiven Handlungen und sozialem Wandel führen.

Das erfordert Entschiedenheit. „Wenn eine ungerechte Situation eine starke Reaktion erfordert, wie im Fall der Apartheid, verlangt das Mitgefühl nicht, dass wir die Ungerechtigkeit akzeptieren, sondern dass wir dagegen Stellung beziehen. Ein solcher Standpunkt sollte allerdings gewaltfrei sein.“

Solange Wut den Geist erfüllt, ist Frieden unerreichbar

Den Ärger konstruktiv auszudrücken ist im Falle von Missbrauch und Gewalt schwierig, räumt der Dalai Lama ein. So könne es geschehen, dass Menschen in dem Fall eine Phase durchmachen, in der sie Hass empfinden; sie sollten jedoch vermeiden, diesen auf schädliche Weise auszuleben.

Weiter widmet sich der Friedensnobelpreisträger dem Thema Wut als Schatten. Unterdrückte Gefühle, insbesondere wenn es sich um Wut handelt, so der Gedankengang, wachsen oft ohne Kontrolle und können sich steigern, bis der Mensch schließlich explodiert. Die unbewusste Wut entlädt sich dann in schädlichen Worten oder Taten. Um dagegen anzugehen, empfiehlt es sich, so sein Ratschlag, die Vernunft zu Rate zu ziehen und Überlegungen anzustellen.

Ein Abschnitt behandelt die Frage: Wie gehen wir mit aggressiven Nachbarn und Kollegen um? Auch hier fordert der Dalai Lama, energisch zu reagieren, um zerstörerisches Verhalten von anderen zu beenden. Wer seine Grenzen nicht definiert, muss mit noch destruktiverem Verhalten rechnen. Die Wut sollte aber auf die Handlung oder die Ungerechtigkeit gerichtet sein, nicht auf die Person. „Wir müssen die Gewalt in der Außenwelt konfrontieren.“

Da der Dalai Lama in Büchern und Vorträgen meist über Wut als unheilsame Kraft spricht, ist dieses Büchlein eine hilfreiche Ergänzung. Was die Machart betrifft, so besteht es aus Interview-Passagen, die der Fragesteller offenbar selbst zusammengesetzt hat. Seine Fragen sind nicht enthalten. Die sehr kurzen Textabschnitte bauen nicht direkt aufeinander auf. Es ist eine Sammlung von Zitaten des Dalai Lama und eigentlich kein richtiges Buch. Und doch können uns die Aussagen zum Nachdenken über dieses wichtige Thema anregen.

Gerald Blomeyer

Ein schwieriges Thema: Kann Wut hilfreich sein, um Veränderungen auf den Weg zu bringen? Und können wir es schaffen, trotzdem gewaltlos zu bleiben und andere nicht zu verletzen? Diskutieren Sie mit uns auf Facebook!

Be Angry! Die Kraft der Wut kreativ nutzen“ von Dalai Lama, übersetzt von Jochen Winter. Allegria 2020, 128 Seiten € 16,99

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Cover Takt-

Mehr Höflichkeit und Taktgefühl

Wie wir wieder Grenzen achten Höflichkeit, Respekt, Rücksicht – diese Eigenschaften gelten heute vielen als antiquiert. Der Philosoph Martin Scherer wünscht sich mehr Takt im Umgang miteinander. Damit will er der Egomanie etwas entgegensetzen und wirbt für ein wenig mehr Distanz zum anderen, um Grenzen zu achten und ihn nicht zu verletzen.
Cover Suzman, Sie nannten es Arbeit

Woher kommt unsere Arbeitswut?

Eine anthropologische Perspektive Der Anthropologe James Suzman untersucht in seinem Buch die Geschichte der Arbeit – von den Anfängen bis heute. Mit erstaunlichen Einsichten: Erst seit rund 10.000 Jahren steht Arbeit im Zentrum menschlichen Lebens. Im größten Teil der Menschheitsgeschichte reichten ein paar Wochenstunden, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Getty Images/ Unsplash

Ist Lügen harmlos?

Ethische Alltagsfragen In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Lügen auf: “Es wird ständig gelogen, nicht nur in der Politik, auch in der Familie, in Freundschaften und am Arbeitsplatz. Wie viel Unwahrheit vertragen gute Beziehungen?”
Getty Images/ Unsplash

Tabuthema Macht

Warum wir unsere Macht bewusst anerkennen sollten Das Thema Macht ist negativ besetzt. Dabei ist Macht zuallererst Gestaltungskraft. Eva Stützel, die gemeinschaftliche Initiativen begleitet, ruft zu mehr Bewusstheit im Umgang mit Macht auf, auch um Machtmissbrauch zu verhindern. Denn es gibt nicht nur Macht über andere und Dominanz bishin zu Gewalt, sondern auch Macht in Verbundenheit mit anderen.
Engin Akyurt/ Unsplash

Mit Journalismus gegen die Desinformation

Ein Standpunkt von Ines Eckermann Seriöser Journalismus ist eine Säule der Demokratie. Denn nur auf der Basis von Fakten kann eine Gesellschaft begründete politische Entscheidungen treffen. Doch die Rechtspopulisten lassen Fakten nicht gelten und nennen das Checken von Fakten „Zensur“. Damit greifen sie die Demokratie an. Ines Eckermann plädiert für eine Stärkung des Journalismus.
Foto: Didacta

Protest: AfD auf der Bildungsmesse Didacta

Ein Standpunkt von Dr. Nina Bürklin Die Didacta, die größte Bildungsmesse in Europa, widmet sich dieses Jahr der „Demokratiebildung“. Hauptaussteller ist die AfD. Eine Fehlentscheidung, schreibt Nina Bürklin vom AVE Institut. Sie fordert, Haltung zu zeigen für die Demokratie. Die Veranstalter sollten Verantwortung übernehmen, statt den Gegnern der Demokratie die große Bühne zu geben.

Kategorien