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Letzte Bastion der Lebendigkeit

altafulla/shutterstock.com
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Flammendes Plädoyer eines Fußballfans

Fußball ist Balsam für die Menschheit. Denn das Spiel verteidigt das Leben gegen die Herrschaft von Ökonomie und Konsum, behauptet der Philosoph Christoph Quarch.

Über eines sollte man sich im Klaren sein: Wenn am 13. Juli 2014, um 21 Uhr MEZ, in Rio de Janeiro der Ball auf dem Anstoßpunkt liegt und das Finale der Fußballweltmeisterschaft angepfiffen wird, werden einige Milliarden Augenpaare auf diese Kugel fokussiert sein. Ist das nicht erstaunlich?

Wie kann es sein, dass eine Lederkugel etwas zuwege bringt, was keinem Menschen je vergönnt sein wird: länderübergreifend, kulturübergreifend, religionsübergreifend die Aufmerksamkeit der Menschheit auf sich lenken? Keinem Papst gelang das je, keinem Dalai Lama und keinem Obama. Nur dem Ball. Das muss zu denken geben.

Zu denken geben muss nicht minder, welch gigantische Bauten die Menschheit errichtet, um diesem Ball einen würdigen Rahmen zu geben: Arenen, die Zehntausende fassen: in Brasilien und Dubai, in Tokio und Johannesburg. Welch‘ ein Aufwand!

Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass Kulturhistoriker des Jahres 2514 auf die Zeit um das Jahr 2000 als die Epoche des Fußballspiels zurückblicken werden. Denn nichts sonst auf der Welt bündelt so viel Energie und Leidenschaft wie dieser Sport. Warum? Was hat es mit dem Fußball auf sich, dass er bei Lichte besehen die einzige wirkliche Ausdrucksform globaler Kultur ist, die die Menschheit bislang zutage gefördert hat?

Spiel als Ausdruck von Lebendigkeit

Gerne – meist in polemischer Absicht – wird das Fußballspiel als eine Art Quasi-Religion der gedeutet. Dann vergleicht man die singenden und johlenden Fans mit einer Kultgemeinde und deutet deren wunderliches Gebaren als Schwundform religiöser Riten – als künstliche Religion, die deshalb hinter der echten zurückbleibt, weil ihr deren Ernst fehlt.

So nahe der Vergleich liegen mag, so sehr geht er in die Irre. Fußball ist keine Religion – und das ist nicht das Schlechteste, was man von ihm sagen kann. Fußball ist ein Spiel, nicht mehr und nicht weniger. Und genau darin liegt sein Zauber, genau darin seine kulturprägende Kraft.

Tatsächlich bestätigt sich täglich in den Stadien und Arenen dieser Welt, was in den 30er Jahren des 20. Jahrhundert der niederländische Historiker Johan Huizinga als These begann: das „Spiel als eine Grundlage und einen Faktor der Kultur zu erweisen“.

„Spiel ist älter als Kultur“ lehrte Huizinga, und es ist älter als Religion. Spiel ist eine der ursprünglichsten Ausdrucksformen menschlicher Lebendigkeit. Kein Kulturkreis, der nicht einen reichen Fundus an Spielen besäße. Keine Religion, die nicht aus Spielelementen hervorgegangen ist – bis zu dem Tag, an dem sie meinte, sich davon befreien zu müssen, um ja nicht „nur“ ein Spiel zu sein.

Aber was soll das heißen – „nur“ ein Spiel? Was soll das heißen, wenn Spielen die ursprünglichste und deshalb auch authentischste Bekundung menschlicher Lebendigkeit ist? Was soll das heißen, wenn Eltern nicht ohne Anflüge von Melancholie und Nostalgie auf ihre spielenden Kinder blicken und sie beneiden ob der seligen Selbstvergessenheit, mit der sie ihre Puppen kämmen – oder ein Lego-Star-Wars-Raumschiff bauen?

„So ihr nicht werdet, wie die Kinder…“ fährt es einem durch den Kopf. Was wenn Jesus das im Sinne hatte…? Wenn er den Menschen sagen wollte: „Ihr sollt doch nur spielen…?“

Blasphemie? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Bei Platon, dem Großmeister des abendländischen Denkens, findet man ganz andere Töne: „Es sollte jeder Mensch sein ganzes Leben zu einer ununterbrochenen Kette der schönsten Spiele zu Ehren der Götter machen“, forderte er in seinem Buch über die „Gesetze“. Die Begründung dafür lieferte rund 2000 Jahre später ein anderer Großer des Geistes. Schiller: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.

Heidegger war Fußballfan

Sehnsucht nach Freiheit und Verbundenheit Ist der Mensch „in voller Bedeutung des Worts“ Mensch, wo er Fußball spielt? Ist Fußball eine Bekundung, eine Feier, eine Manifestation echten, ursprünglichen Menschseins? Ist das „Im Spiel Sein“ ein fundamentales Existenzial des Daseins, um mit Heidegger zu fragen.

Genug davon. Heidegger war zwar Fußballfan, Schiller aber dachte ganz sicher anderes. Er dachte an die Kunst, vor allem an die dramatische Kunst, deren Würde und Zauber er darin sah, dass sie dem Menschen eine wunderbare Erfahrung ermöglicht: das spielerische Ineinandergreifen höchster Freiheit bei gleichzeitig höchster Verbindlichkeit oder auch Verbundenheit.

Damit hat er unzweifelhaft ein zentrales Strukturelement des Spiels benannt – und die Antwort dafür gefunden, warum der Mensch so gerne spielt: Weil das Spiel seine zwei – scheinbar widersprüchlichen – Grundsehnsüchte stillt: die Sehnsucht nach individueller Freiheit und die Sehnsucht nach kollektiver Verbundenheit.

Beidem dient das Spiel. Dem Spieler ist vieles verbindlich: die Mitspieler und die Gegenspieler, ohne die er nicht spielen kann; die Spielregeln ebenso wie die Grenzen von Spielzeit und Spielfeld – denn um spielen zu können, muss das Spiel von der „Nicht-Spiel-Welt“ und „Nicht-Spiel-Zeit“ geschieden sein .

Doch sind es nun gerade diese Verbindlichkeiten und scheinbaren Einschränkungen der Freiheit, die dem Spieler ein unendliches Potenzial möglicher Spielzüge öffnen. Es entspricht der Logik des Spiels, dass es gerade die Regeln sind, die die spielerische Kreativität entfachen. Wer spielt, ist ganz bei sich und ganz beim anderen – das Ideal von Kommunikation. Im Spiel, so könnte man mit Martin Buber sagen – wird der spielende Mensch am spielenden Du zum lebendigen Ich.

Genau das geschieht (auch) beim Fußball. Beim Fußball geschieht es sogar auf besonders eindrückliche Weise. Das Spiel ist äußerst einfach. Jedes Straßenkind kann es spielen. Mehr als einer Blechdose und zwei Steine, um das Tor zu markieren, braucht es nicht, um in jene Anderswelt einzutauchen, die Raum und Zeit vergessen lässt.

Wenige Regeln garantieren ein unendliches Potenzial möglicher Spielzüge. Das Universum wird längst verglüht sein, bis sich ein Fußballspiel in sämtlichen Aktionen zum ersten Mal wiederholt. Wenn das Spiel begonnen hat, spielt es ganz von selber auf. Es spielt sich ab, es spielt sich aus. Und es reißt alle Spieler mit. Sie können nicht mehr aufhören – sie wollen nicht mehr aufhören. Selbst wenn die Muskeln längst verkrampft sind.

Ohne Gegner kein Spiel

Wer im Spiel ist, spielt um des Spielens willen. Das Gewinnen ist zweitrangig. Die Siegprämie erst recht. Wer Fußballspielern unterstellt, sie spielten um der Prämie willen, zeigt, dass er nichts vom Spiel begriffen hat. Anders nämlich ließe es sich nicht erklären, dass auch die schmerzlichste Niederlage belanglos ist, wenn man mit dem Wissen verliert, ein gutes Spiel gespielt zu haben.

Und deshalb ist es völlig stimmig, im Gegner einen Freund zu sehen, weil ohne ihn das Spiel vorbei wäre. Selbst den Falschspieler kann eine Spielgemeinschaft tolerieren, denn nicht der Regelverstoß wiegt schwer. Wer Foul spielt, sieht gelb. Wer sagt: „Ich spiel nicht mehr mit. Fußball ist blöd“, darf hingegen nicht auf Gnade hoffen. Er ist ein Spielverderber, und die Logik des Spiels sieht vor, dass „eliminiert“ werden muss, wer das Spiel verdirbt, wie Huizinga sagt.

Weil das Spiel – auch das Fußballspiel – sich selbst genügt; weil es keinen Zweck verfolgt außer sich selbst: Deshalb ist das Fußballspiel für unsere Welt so wichtig. Und es ist unbedingt begrüßenswert, dass sich in ihm die Menschheit trifft. Warum? Weil es mit zähem Widerstand verteidigt, was anderenorts verloren geht: die ursprüngliche Leben
digkeit, das zweckfreie nutzlose Tun, das pure Sich-Ausleben des Lebens.

Solange das noch möglich ist, solange es noch Spielplätze und Spielzeiten gibt, kann der Mensch noch im vollen Sinne Mensch sein. Doch werden diese Reservate des Menschseins und Spiels immer rarer.

Der Herrscher der Welt ist nicht der Homo Ludens (der spielende Mensch), sondern der Homo Oeconomicus (der wirtschaftende Mensch). Dieser ist jenem Feind: Der Homo Oeconomicus duldet es nicht, wenn Menschen Nutzloses tun – wenn sie einfach „nur“ spielen. Er will und muss sich alles nutzbar machen. Er fragt bei allem nach Profit. Er will Gewinne – und erträgt es nicht, wenn Spieler auch verlieren können.

Er hasst das Drama und die Tragödie. Er hat keinen Sinn für Heldentum und Größe. Wenn der FC Bayern „dahoim“ das Champions-League-Finale verliert, dann spottet er über Lahm & Co. Wenn Uli Hoeneß vor Gericht steht aber, jubelt er ob seines Triumphes – hofft er doch, auf diese Weise, die Spielwelt zu vernichten.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Wucht der Homo Oeconomicus das Fußballspiel zu zerstören trachtet. Alles bietet er auf, um es seiner Macht zu unterwerfen: Spielertransfers, Übertragungsrechte – big business. Vor allem inszeniert er medial das Spiel auf eine Weise, die es konsumierbar macht.

Denn er weiß: Ist das Spiel nur erst zum Konsumartikel geworden, dann ist es tot. Warum? Weil, was man konsumiert, die Seele nicht berührt – niemanden zu Tränen rührt, zum Jubeln reizt. Weil etwas, das man konsumiert, nicht Hundertausende bewegt – beim Public-Viewing, dem einzigen Ort, wo erwachsene Männer in aller Öffentlichkeit weinen und die Frauen kreischen dürfen.

Wider die Logik des Marktes

Das echte, ursprüngliche Spiel – Fußball zum Beispiel – zeichnet sich aus durch den Sog, der von ihm ausgeht: Es macht Zuschauer zu Mitspielern. Man kann sich ihm nicht entziehen, fiebert mit, leidet mit, stirbt beim Elfmeterschießen tausend Tode, wird gekreuzigt, begraben und steht am dritten Tage auf, wenn das Schicksal sich wendet und Philipp Lahm doch noch den Henkelpott (=Championsleague-Trophäe) in Händen hält.

Fußball ist Komödie und Tragödie: die ernsteste Angelegenheit der Welt, solange das Spiel läuft. Danach aber war es „nur“ ein Spiel. Nichts Schöneres lässt sich davon sagen.

Solange Fußball Fußball ist, kann man das Spiel nicht konsumieren – man kann es nur feiern, mitspielen, zelebrieren. Solange das so bleibt, ist Fußball unbezahlbar. In jeder Hinsicht: Es bleibt die letzte Bastion authentischer Lebendigkeit, die der Homo Oeconomicus noch nicht zu stürmen wusste. Seine Kolonialisierung aller Bereiche des Lebens hat vor nichts halt gemacht: Kunst, Sexualität, Spiritualität, Reisen – alles hat er schon erobert. Allein das Fußballspiel hält stand. Deshalb braucht es die Welt. Deshalb ist es ein Geschenk des Himmels.

Und wir sollten endlich lernen, uns dieses Geschenkes würdig zu erweisen: indem wir mitspielen, mitleiden, mitträumen, mitjubeln, mittanzen; indem wir aufhören, Spielverderber zu sein, mit Moral und Ökonomie das Spiel zu vergiften; indem wir lernen, würdig zu verlieren und würdig zu gewinnen.

Frei nach Nietzsche: In jedem Menschen steckt ein Kind, das will spielen – auf denn ihr Männer und Frauen, so wecken wir das Kind im Menschen! Feier wir die WM!

Christoph Quarch

 

Nomi Baumgartl
Nomi Baumgartl

Dr. Christoph Quarch (*1964) ist freischaffender Philosoph, Autor, Vortragender und Veranstalter philosophischer Reisen.

www.christophquarch.de

 

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