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"Liebe ist stärker als die Bosheit der Welt"

Anselm-Grün

Ein Gastbeitrag von Pater Anselm Grün

Die Liebe steht im Mittelpunkt christlicher Ethik. Der Benediktinermönch Anselm Grün vermittelt zeitgemäße Botschaften der Liebe. „Die Liebe gibt meinem Leben einen neuen Geschmack,“ so Grün. Sie ist eine Kraft, die in uns wirkt. Der Autor inspiriert dazu, dieser Kraft Raum zu geben, damit das Klima in der Gesellschaft wärmer wird.

 

Die Liebe ist nicht nur eine Fähigkeit des Menschen. Sie durchdringt vielmehr die ganze Welt und ist somit das Grundprinzip der Schöpfung. Alles, was ist, ist von Gottes Liebe durchdrungen. Daher leben wir wesensgemäß, wenn wir die Liebe, die in allem ist, auch nach außen hin in unserem Verhalten zeigen.

Im Johannesevangelium ist die Liebe das zentrale Gebot, das Jesus seinen Jüngern vermittelt. Er sagt: „Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.“ (Joh 15,12) Die Liebe, zu der Jesus uns auffordert, hat also ihn selbst zum Vorbild. Am Kreuz siegt seine Liebe über den Hass der Welt. Daher ist das Kreuz für Johannes nicht in erster Linie Ausdruck eines Scheiterns, sondern Zeichen, dass die Liebe stärker ist als alle Bosheit der Welt.

Jesus liebt am Kreuz sogar noch seine Mörder. Das bricht eine Bresche in den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, von Hass und Gegenhass. Jesus selbst interpretiert seine Liebe so: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ (Joh 15,13)

Die Liebe, die wir leben sollen, ist zunächst einmal ein Geschenk Jesu an uns. Jesus lebt uns diese Liebe vor. Und er gibt uns Anteil an dieser Liebe.

Lieben, auch wenn die Zuneigung nicht erwidert wird

Eine andere wichtige Aussage über die Liebe macht uns der 1. Johannesbrief. Da heißt es: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh 4,16) Liebe ist also eine göttliche Macht. Die Liebe ist in uns. Auf dem Grund unserer Seele finden wir nicht nur Leere, sondern die Liebe als die eigentliche Quelle, aus der wir schöpfen können. Und wenn wir aus dieser Quelle der Liebe schöpfen, dann haben wir Teil an Gott.

Für viele sind diese Aussagen über die Liebe als das Wesen Gottes zu abstrakt. Vor allem sind sie keine konkreten Anweisungen zum Handeln. Doch diese Aussagen sind für mich eine Hilfe, mit den Erfahrungen der Liebe angemessen umzugehen.

Alle Menschen sehnen sich danach, zu lieben und geliebt zu werden. In dieser Sehnsucht geliebt zu werden und zu lieben, machen sie Erfahrungen der Erfüllung und Enttäuschung, der Verzauberung und der Verletzung. Viele jammern, dass ihre Sehnsucht nach Liebe von dem Gegenüber nicht erwidert wird. Dann fühlen sie sich todunglücklich.

Die Aussage des 1. Johannesbriefes will uns sagen: Die erfüllenden und die enttäuschenden Erfahrungen menschlicher Liebe wollen mich aufbrechen für die Liebe, die auf dem Grund meiner Seele strömt. Und diese Liebe kann mir niemand nehmen. Denn es ist meine Liebe. Und in dieser rein menschlichen Liebe berühre ich Gottes Liebe, da bin ich mitten drin in Gottes Liebe.

So werde ich durch die Abweisung meiner Liebe durch einen Menschen nicht abgeschnitten von der Liebe, die in mir ist, sondern immer tiefer hinein geführt in die Liebe auf dem Grund meiner Seele. Und daher werde ich durch die Enttäuschung in der Liebe nicht resigniert die Liebe aufgeben, da sie doch nichts bringt. Die Liebe auf dem Grund meiner Seele befähigt mich vielmehr immer wieder, Liebe zu den Menschen aufzubringen, auch wenn sie nicht erwidert wird. Die Liebe gibt meinem Leben eine neue Qualität und einen neuen Geschmack.

Abschied von falschen Selbstbildern

Jesus antwortet dem Schriftgelehrten, der ihn nach dem wichtigsten Gebot fragt, mit dem Verweis auf die Stelle aus dem Buch Deuteronium: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Mk 12,29-31)

Liebe ist also auch ein Gebot, etwas, das der Mensch vollbringen soll. Der Mensch soll Gott mit all seiner Kraft lieben. Das heißt: Er soll mit seinem ganzen Sein sich auf Gott hin ausrichten, seine Sehnsucht auf Gott richten und versuchen, diesen Gott, auch wenn er ferne und unbegreiflich ist, zu lieben. Lieben ist hier weniger emotional geprägt, sondern als eine Haltung, in der ich Gott als das höchste Gut anerkenne. Lieben heißt hier: mit meinem ganzen Bestreben mich auf Gott ausrichten und Gott als das Zentrum meines Lebens begreifen.

Das zweite Gebot ist: Den Nächsten lieben wie sich selbst. Zur Liebe gehört, dass wir uns selbst lieben. Das heißt: wir sollen gut mit uns umgehen, wir sollen uns annehmen, wie wir sind.

Es gibt so viele Menschen, die gegen sich wüten. Sie bekämpfen sich selbst, weil sie sich selbst ablehnen. Sie wollen durch ihre Askese einen anderen Menschen aus sich machen. Doch die Bedingung für die Liebe zum Nächsten ist die Selbstliebe. Sie bedeutet kein egoistisches Kreisen um sich selbst, sondern ein Wohlwollen sich selbst gegenüber.

Viele können sich selbst nicht lieben, weil die Bilder, die sie von sich haben, nicht übereinstimmen mit ihrer Wirklichkeit. Daher können wir uns selbst nur lieben, wenn wir uns verabschieden von den Illusionen, die wir uns von uns selbst gemacht haben. Sich selbst lieben heißt letztlich: sich selbst so annehmen, wie ich bin, liebevoll mit mir selbst umgehen. Und sich selbst lieben heißt: meinen Körper lieben, mich als Mensch mit meinen Begrenzungen lieben, einverstanden sein mit mir selbst, so wie ich geworden bin.

Nächstenliebe beschenkt uns selbst

Früher haben viele Christen allein die Nächstenliebe betont. Sie haben sich damit selbst oft überfordert. Heute ist die Tendenz eher, dass wir darauf fixiert sind, uns selber zu lieben. Doch dann geraten wir oft in eine Egoismusfalle, wie die Psychologin Ursula Nuber das nennt. Wir kreisen nur noch um uns selbst und fühlen uns dann isoliert und einsam. Die Nächstenliebe befreit uns von dem egoistischen Kreisen um uns selbst. Und die Nächstenliebe beschenkt uns auch selbst.

Wir lieben den Nächsten nicht, damit wir selbst etwas davon haben. Wir lieben ihn als Nächsten. Aber indem wir ihn lieben, werden wir auch oft selbst beschenkt. Die Offenheit für den Nächsten war sicher etwas, was die christliche Ethik seit jeher geprägt hat. Wir sind verantwortlich für unsere Brüder und Schwestern. Und wir sollen uns ihnen in Liebe öffnen und sie liebevoll behandeln. Die christliche Nächstenliebe hat die abendländische Gesellschaft in weiten Kreisen geprägt und das Klima in der Gesellschaft wärmer werden lassen.

Jesus selbst begründet diese Nächstenliebe damit, dass wir in jedem Menschen Christus selbst begegnen. Jeder Mensch ist Bruder oder Schwester Jesu. Im Nächsten lieben wir also Jesus selbst. An unserem Verhalten zum Mitmenschen wird sichtbar, ob wir Jesus lieben oder nicht. Die Liebe bekommt dadurch etwas ganz Konkretes. Jesus sagt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)

Die Liebe zum Nächsten ist also geprägt von der Ehrfurcht vor dem andern. In jedem begegnen wir Christus selbst. Oder wie Jesus das in seiner Gerichtsrede beschreibt: In jedem Menschen begegnen wir einem König oder einer Königin. Den andern lieben heißt daher nicht, auf den andern herabschauen und ihn zum Objekt meiner Liebe zu machen. Vielmehr liebe ich den andern, indem ich zu ihm hinaufsehe und in ihm einen königlichen Menschen sehe. Den Nächsten lieben meint immer, dass ich das Geheimnis des andern achte.

Kann man Feinde lieben?

Die Kirchenväter haben die Feindesliebe als das Charakteristische des Chr
istentums gesehen. Für viele ist die Feindesliebe aber eine Überforderung des Menschen. Doch was meint Jesus mit der Feindesliebe?

Feindschaft entsteht immer durch Projektion. Ich kann mich selbst nicht annehmen. Das, was mir selbst unangenehm ist, projiziere ich dann auf den andern und bekämpfe es in ihm. Ich sehe ihn als meinen Feind an. Der Feind fühlt sich ungerecht behandelt und erwidert die Feindschaft zu mir.

Den Feind zu lieben heißt nicht, dass ich mir alles gefallen lasse. Zuerst heißt es, dass ich den Feind nicht als Feind ansehe, sondern als einen Menschen, der sich selbst nicht annehmen kann, als einen Menschen, der zerrissen ist und es daher nötig hat, mich zu zerreißen. Ich sehe also im Feind seine eigene Zerrissenheit. Und ich wünsche ihm, dass er mit sich in Einklang kommt.

Feindesliebe ist für Jesus nicht etwas Passives. Sie besteht nicht darin, sich alles gefallen zu lassen. Vielmehr will Jesus uns konkrete Wege weisen, wie wir die Feindschaft überwinden können. Das tut auch uns selbst gut. Denn Feindschaft ist immer anstrengend. Ich muss mich ständig gegen den Feind wehren. Die Feindesliebe hebt die Feindschaft auf. Ich sehe im Feind den Bruder oder die Schwester, die mit sich selbst zerstritten sind und daher ihre Probleme auf mich projizieren.

Jesus zeigt uns kreative Lösungen auf, wie wir die Feindesliebe verwirklichen können. Diese kreativen Lösungen sind keine absoluten Gebote, sie wollen vielmehr unsere Phantasie anregen, wie wir aus dem Teufelskreis der Feindschaft herauskommen können.

Ich möchte nur eine dieser kreativen Lösungen anschauen. Jesus sagt: „Wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“ (Mt 5,41)

Was geschieht, wenn wir mit jemandem eine weite Strecke gehen? Auf einmal ist der andere nicht mehr dein Feind. Du kommst ihm näher. Du verstehst ihn. Er ist auch kein Unmensch. Und vielleicht wirst du auf diesen zwei Meilen zu seinem Freund. Diese Art und Weise, die Feindschaft zu überwinden, tut letztlich beiden gut. Denn sich verfeindet gegenüber zu stehen, ist immer anstrengend und für niemanden angenehm.

Liebe ist die Kraft in uns

Für die christliche Theologie ist wichtig, dass wir über die Liebe nicht moralisierend sprechen sollen. Liebe ist also nicht zuerst eine Forderung der christlichen Ethik. Liebe ist vielmehr eine Macht, die alles durchdringt.

Liebe ist Gott selbst, der die ganze Schöpfung mit seinem Geist durchdringt. Und die Liebe ist auch schon in unsere Herzen ausgegossen, wie das der hl. Paulus ausdrückt: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Röm 5,5)

Die Liebe ist also eine Fähigkeit, die Gott uns geschenkt hat. Und sie ist eine Kraft, die in uns wirkt. Liebe heißt also in erster Linie, dieser Kraft der Liebe in uns Raum zu geben. Dann werden wir von allein aus der Liebe heraus handeln. Dann muss uns nicht irgendjemand ständig zur Liebe anhalten oder sie uns befehlen. Die Liebe prägt uns, weil sie in uns ist. Und indem sie uns prägt, spüren wir, dass sie uns guttut, dass sie unserem Wesen als Mensch entspricht.

Für Paulus ist die Liebe eine Gabe Gottes. Und wenn wir dieser Gabe in uns Raum geben, dann erleben wir uns auf neue Weise. Paulus besingt daher im Hohenlied der Liebe diese neue Erfahrung, die wir machen dürfen, wenn wir der Liebe trauen, die in uns ist: „Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“ (1 Kor 13,7f)

Anselm Grün

Pater Anselm Grün, Dr. theol. und Benediktinermönch, ist der meistgelesene christliche Autor unserer Tage. Er ist seit 1964 Mitglied der Benediktiner-Abtei Münsterschwarzach. Von 1965 bis 1971 studierte er Philosophie und Theologie in St. Ottilien und in Rom, von 1974 bis 1976 Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaft in Nürnberg. Er ist Referent zu spirituellen Themen, geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation, Kontemplation und Fasten. www.anselm-gruen.de

 

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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