Mehr Mitgefühl mit sich selbst

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Christopher Germer, Pionier einer neuen Bewegung, ermuntert dazu, freundlich zu sich selbst zu sein

Leiden und Schmerz wohlwollend annehmen, statt zu bekämpfen, darum geht es beim Selbstmitgefühl. Christopher Germer von der Harvard Medical School will das Thema mehr Menschen zugänglich machen.

Wie können wir im täglichen Leben lernen, mit Kummer und Leid auf eine gesunde Weise umzugehen? Christopher Germer, Buchautor und Pionier der in den USA entstandenen Bewegung, die sich des Themas Selbstmitgefühl angenommen hat, sagt dazu: „Anstatt destruktiven Gedanken mit Widerstand zu begegnen, können wir unseren Schmerz anschauen und mit Freundlichkeit darauf reagieren.“ Das ist Selbstmitgefühl, wenn wir uns voller Mitgefühl so um uns selbst kümmern, wie wir es bei einem geliebten Mensch tun würden.

Was aber tun wir normalerweise, wenn wir leiden, wenn es nicht gut läuft? Wir rationalisieren, grübeln, lehnen uns ab oder üben harte Selbstkritik und verschlimmern die Situation nur noch. Diese Tendenz ist im Westen sehr verbreitet und schadet letztlich nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen.

Der achtsame Weg zur Selbstliebe

Christopher Germer ist klinischer Psychologe, der sich auf Achtsamkeit und Psychotherapie spezialisiert hat. Er arbeitet in privater Praxis und als Lehrbeauftragter für Psychologie an der Harvard Medical School in Cambridge. „Selbstmitgefühl ist für mich eine Herzensangelegenheit“, so Germer in der Schweisfurth-Stiftung in München.

Germers persönliches Interesse am Thema begann 2005 während einer Zeit, als er große Angst hatte, vor einem Publikum zu sprechen, gesteht er. Die Meditationslehrerin Sharon Salzberg riet ihm damals: „Warum probierst du es nicht einfach mit der Praxis der Liebenden Güte?“

Vier Monate später sollte er auf einem großen Kongress vor 500 Zuhörern sprechen. Dank der Metta-Praxis („Möge ich sicher, glücklich … sein“) konnte er seine große Furcht erfolgreich besiegen. Die guten Wünsche weitete er auch auf das Publikum aus.

Für ihn war es wie ein Wunder, dass er endlich angstfrei sprechen konnte: „Es war für mich die erste Lektion hinsichtlich der starken Kraft des Selbstmitgefühls.“ Das Selbstmitgefühl erlaubte es ihm, mit seiner Scham einfach zu sein. Die wohlwollende Akzeptanz des Gefühls löste in ihm eine grundlegende Verhaltensänderung aus. „Je mehr ich mich akzeptieren kann wie ich bin, umso mehr kann ich mich verändern.“

Später kam Germer zu der Erkenntnis, dass man sich um starke Emotionen kümmern müsse wie eine Mutter für ihr Kind sorgt. Anstatt den Feind (z. B. Angst) im Kampf zu besiegen, sei Mitgefühl und Präsenz gefragt, denn was wir ablehnen, verfolgt uns.

220 Studien zum Selbstmitgefühl

„Selbstmitgefühl ist das schlagende Herz von Achtsamkeit, wenn wir Leid erfahren“, so Germer. Durchaus selbstkritisch gestand er ein, dass das Wort Selbstmitgefühl komisch klinge und mit Selbstmitleid, Opferhaltung und Schwäche assoziiert werden könne. Studien der Wissenschaftlerin und Autorin Kristin Neff zeigten jedoch das Gegenteil. Partner in einer Beziehung bestätigten, dass der andere durch die Übung von Selbstmitgefühl mehr verbunden, weniger aggressiv und kontrollierend sei.

„Es gibt also keine Verbindung zwischen Selbstmitgefühl und Egoismus“, so Germer. Durch Selbstmitgefühl hätten die Menschen nachweislich mehr Motivation, sich zu ändern, sich nicht mehr so hart zu kritisieren und sie unterwerfen sich nicht. Derzeit gibt es rund 220 Studien zu Selbstmitgefühl (siehe: Kristin Neff`s Website www.self-compassion.org). In vielen Städten wie München gibt es derzeit 8-Wochen-Trainings in Selbstmitgefühl – Mindful Self-Compassion (MSC). Mehr unter: www.selbstmitgefühl.de.

Michaela Doepke

 

Buchtipp: Christopher Germer, Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl, Arbor Verlag

Weitere Infos:

www.selbstmitgefühl.de

www.centerformsc.org

www.mindfulselfcompassion.org

www.self-compassion.org

 

 

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