Über ein Netzwerk für ganzheitliches Heilverständnis
Der Verein Medizin und Menschlichkeit, kurz „MuM“, wirbt für einen neuen Ansatz in der Medizin. Das Netzwerk engagiert sich für eine bessere Beziehung zwischen Arzt und Patient. Die Autorin stellt den Verein vor und führte ein Gespräch mit der Ärztin Eva Wartner, die hier aktiv ist.
Wie alles begann? Im Oktober 2008 diskutierte eine kleine Gruppe junger Medizinstudierender in München, wie sich Medizin menschlicher praktizieren ließe. Sie fragten sich, welche Ausbildungsinhalte es dafür zusätzlich zu ihrem Medizinstudium brauche. Gemeinsam spürten sie den Wunsch nach ganzheitlicher Orientierung und spiritueller Offenheit.
Aus dieser kleinen Keimzelle entstand wenige Monate später der Verein „Medizin und Menschlichkeit e.V.“ (MuM), der bereits im März 2010 als „Akademie“ eine Seminarwoche für junge Mediziner anbietet. Die breitgefächerten Inhalte sind beispielsweise Achtsamkeit, Körperarbeit und Kommunikation.
Seither ist MuM zu einem großen Netzwerk und einer starken Bewegung angewachsen. Den Kern bilden 75 aktive Mitglieder mit acht Vorstandsmitgliedern. Als Interessengemeinschaft gruppieren sich um diesen Kern rasch mehrere Hundert interessierte Studierende, Ärztinnen und Ärzte sowie Vertreter anderer Gesundheitsberufe. Die universitäre Anbindung erfolgt durch Seminare mit Titeln wie „Arzt-Patienten-Interaktion in der Palliativmedizin“ an der LMU München, die bereits mit dem Hildegard-Hampp-Preis für innovative Lehre ausgezeichnet wurden. Unbeirrbar wächst die Bewegung, die sich für mehr Humanität in der Medizin einsetzt. Francoise Guillot sprach mit der Ärztin Dr. Eva Wartner, Mitglied des Vereins „Medizin und Menschlichkeit“.
Frage: Frau Dr. Wartner, was ist das Anliegen von MuM, dem Verein für „Medizin und Menschlichkeit“?
Wartner: Die Mitglieder unserer Initiative verbindet der gemeinsame Wunsch, das momentan vorherrschende biomechanische Paradigma in der Medizin mit neuen kreativen Ideen zu erweitern. Einerseits wollen wir auf den Mangel aufmerksam machen, den wir sowohl in der universitären Ausbildung als auch in der klinischen Praxis erfahren.
Andererseits haben viele von uns durch eigene therapeutische Erfahrungen, durch die Begegnung mit beeindruckenden Lehrern oder die Beschäftigung mit komplementären Medizinrichtungen gelernt, dass es ein erweitertes Krankheits- und Heilungsverständnis und einen liebevollen Blick auf den Patienten gibt. Die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung kann darüber entscheiden, in welchem Maße heilsame Prozesse beim Patienten einsetzen. Diese Grundhaltung, die sich letztlich in jeden medizinischen Bereich integrieren lässt, möchten wir herausarbeiten, erfahrbar machen und vermitteln.
Authentizität, Herzlichkeit und ein achtsamer, wertschätzender Umgang in der Kommunikation, sowohl unter Kollegen als auch mit den Patienten, sind Kern-Anliegen und Grund-Werte der Vereinsmitglieder.
Weiter geht es darum, das eigene Menschsein in all seinen Facetten zu entdecken, kennenzulernen und anzunehmen. Wenn wir unsere „Schatten“, also unsere eigene Trauer, Wut, Scham, Ängste und unsere Begrenztheit kennen, können wir Menschen, die unsere Unterstützung brauchen, in einer Weise begegnen, die zur Heilung beiträgt.
Gleichzeitig erschließen wir dabei Quellen der Lebendigkeit und Freude. Das Ganze nennen wir dann „menschlich“ und versuchen es in unseren Veranstaltungen wie z.B. der „Akademie“ erfahrbar zu machen und in regem Austausch miteinander zu kultivieren. Wir als Heiler müssen selbst erst ein ganzes Stück weit heilen. Im Zentrum von all dem steht letztlich: die Liebe.
Medizinische Behandlung auf Augenhöhe
Welche Auswirkungen hat diese ganzheitliche Betrachtungsweise auf die Arzt-Patienten-Beziehung?
Wartner: In dieser Erfahrung des Mensch-Seins ist der Arzt dem Patienten nicht überlegen. Er befindet sich auf Augenhöhe, fühlt mit ihm, ohne sich zu identifizieren. Es ist in Ordnung, wenn er dabei emotional berührbar bleibt und an sein eigenes Mensch-Sein erinnert wird.
Zeitdruck und andere zwingende Strukturen erzeugen Distanz zum Patienten. Ist es möglich, Empathie und Aufmerksamkeit im turbulenten Krankenhaus-Alltag zu praktizieren?
Wartner: Präsenz und Achtsamkeit in der Begegnung miteinander fördern das Vertrauen in der Arzt-Patienten-Begegnung und sind eine wertvolle Hilfe für die Diagnosestellung. Es ist sicher so, dass man oft gerne mehr Zeit für ein Gespräch hätte. Aber im Grunde ist es nicht wirklich die Länge der Zeit, die ausschlaggebend ist, sondern die Qualität der Präsenz des behandelnden Arztes während des Gesprächs. Lieber fünf Minuten präsente, mitfühlende Aufmerksamkeit als eine halbe Stunde Unachtsamkeit.
Welche Vorbilder gelten als Quelle der Inspiration für die Mitglieder des Vereins Medizin und Menschlichkeit?
Wartner: Viele von uns haben einen komplementärmedizinischen Hintergrund und sind vielseitig, also auch spirituell, interessiert. Stetige Inspiration für die Haltung in der Kommunikation liefern uns die „10 Kernfähigkeiten des Dialogs“ nach Martin Buber und David Bohm. Und es gibt einige Menschen, die uns durch ihre Persönlichkeit inspirieren, wie z.B. unser Ehrenmitglied Dr. Jochen Gleditsch, den wir schon häufig in unserer Akademie als Gastredner eingeladen hatten.
Jochen Gleditsch ist bereits über 80 Jahre alt, aber immer noch unermüdlich als Dozent und Mediziner tätig. Er begeistert durch seine bodenständige, weise, warmherzige und offene Art. In den medizinischen Fakultäten und Krankenhäusern sind echte Vorbilder leider eher selten. Stress und Überforderung führen oft zum Phänomen der „Depersonalisierung“ – also einer distanzierten Beziehung zum Patienten und auch zu Kollegen oder Studierenden, die eigentlich hoch motiviert in ihr Studium gestartet waren.
Es gibt viele desillusionierte Menschen in Gesundheitsberufen – deshalb die große Wichtigkeit des Netzwerks gleichgesinnter und praktizierender Menschen, die einander gegenseitig inspirieren und in ihrem individuellen Weg bestärken.
Die Akademie macht Mut
Einmal im Jahr veranstaltet Medizin und Menschlichkeit eine „Akademie“. Hier werden Achtsamkeit und Selbstmitgefühl, sowie eine menschliche, nicht-urteilende, wertschätzende Kommunikation praktiziert. Was sind die Hauptaufgaben der Akademie?
Wartner: Wir erforschen unser Mensch-Sein. Es geht um Werte, Visionen, Grenzen, Berührung, Ausdruck. Es geht darum, mit sich selbst und mit anderen in Kontakt zu kommen sowie Ressourcen für den Klinikalltag zu stärken und Eigenverantwortung zu übernehmen. Das geschieht durch Interaktion, Meditation und Reflexion auf unvorhersehbare Weise jedes Mal neu.
Insgesamt macht die Akademie Mut, für den eigenen Weg in der Medizin einzustehen und im eigenen Radius positive Veränderung zu bewirken. Aus dieser intensiven Gemeinschaftserfahrung heraus entsteht auch ein Netzwerk von tiefen Freundschaften, was zusätzlich den Rücken für den oft nicht so einfachen Weg in der Medizin stärkt.
Welche Zukunftsvisionen haben Sie?
Wartner: Es wäre schön, wenn sich der „Spirit“ von Medizin und Menschlichkeit in der Medizin immer weiter verbreiten und einen Wandel von innen heraus bewirken würde. Vielleicht fühlen wir uns ja irgendwann sogar überflüssig, sobald ein fundamentales Umdenken stattgefunden hat. Aber solange das Netzwerk eine Unterstützung und Orientierung
im Arbeitsalltag für Studenten und Mediziner darstellt, soll es bestehen und gedeihen. In der persönlichen Vision von vielen von uns taucht auch immer wieder ein ganz besonderes Gesundheitszentrum auf, in dem wir so arbeiten können, wie wir es uns vorstellen.
Ich bin überzeugt, dass die Aktivitäten des Vereins eine große Bedeutung für junge Mediziner haben! Wie Stephan Allmendinger, ein anderes Mitglied des Vorstands, sagt: „Es geht hier um einen Kulturwandel, nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Gesellschaft“.
Francoise Guillot ist Heilpraktikerin, Buch-Autorin und Stress-Reduktionstrainerin. Sie arbeitet in eigener Praxis in Mannheim www.phoenixtraining.de
Der Verein Medizin und Menschlichkeit wurde im Dezember 2009 gegründet. Die Tätigkeiten sind, ganz im Sinne der Gemeinnützigkeit, darauf gerichtet, das Gemeinwohl in den Bereichen öffentliches Gesundheitswesen und Berufsbildung zu fördern.
Mehr: www.medizinundmenschlichkeit.de